Natürlich hatte Porofsky diesen Schritt erwartet und Artner sofort an ihre Jahrzehnte alte Abmachung erinnert, unter keinen Umständen irgendetwas zu unterschreiben, was die Sache Gruber betraf. Täte sie das, müsste sie auf der Stelle aus dem Heim ausziehen und ins Gefängnis übersiedeln. Mord verjährt nicht! Und sie war eine der Anstifterinnen, deren Verleumdung zu Dr. Grubers Ermordung geführt hatte. Artners uralte Angst war sofort wieder mit aller Wucht aufgebrochen. Die meisten Menschen blieben ein Leben lang manipulierbar, sagte sich Porofsky und gönnte sich einen Moment des nachhallenden Triumphes. Sie saß neben Timo in seinem Porsche, den er ihr verdankte, und blickte abwechselnd hinüber zum Eingang des Luxusaltersheims und auf Timo, der das Teleobjektiv auf seiner Kamera justierte.
»Sobald die Wagner rauskommt«, sagte Porofsky, »machst du Fotos von ihr.«
»Das hab ich schon kapiert«, sagte Timo. Er klang ärgerlich. Schon seit sie hier angekommen waren, hatte ihn seine Großmutter mit diesem Befehl genervt.
»Und dann folgst du ihr«, überging Dorothea Porofsky die Unmutsäußerung, »unauffällig, wenn das mit diesem Wagen überhaupt möglich ist.«
»Ich bin ja kein Volltrottel«, verteidigte sich Timo.
»Was du noch nie beweisen hast müssen«, ergänzte seine Großmutter kühl.
»Sag einmal, spinnst du schon komplett?«, brauste Timo auf. »Was ist denn los mit dir? Zuerst kann ich gar nicht schnell genug bei dir sein und jetzt beleidigst du mich in einer Tour? Du hältst mich für zu blöd, dass ich eine alte Schachtel fotografiere und sie verfolge. Warum?«
»Du hast noch immer nicht kapiert, was auf dem Spiel steht.«
»Dann erklär’s mir – bitte!«
»Wenn du dein parasitäres Leben in dieser Form auch nur halbwegs weiterführen willst, dann müssen wir diese Alte stoppen. Wir müssen herausfinden, wo sie haust. Der Fortbestand unseres Vermögens und unseres Familienbesitzes ist in Gefahr.«
Timo schnaubte, versagte sich aber eine Reaktion. Seine Großmutter hielt das Heft in der Hand.
»Und jetzt die ausführliche Fassung: Unser Zinshaus, dem wir alle unsere sorgenfreie Existenz verdanken, hat vor gar nicht so langer Zeit einer jüdischen Familie gehört. Dein Urgroßvater, Gott habe ihn selig, war bei dieser Familie Rabental als Hausmeister angestellt. Als die Zeiten für das jüdische Volk schwieriger wurden, hat ihm Herr Ariel Rabental das Haus zu einem günstigen Preis verkauft. Als Dank für seine Treue und seine redlichen, langjährigen Dienste. Gleich danach hat man diese Familie, die Eltern und zwei Töchter, abgeholt und nach Mauthausen deportiert. Aber ein gewisser Johann Gruber, ein geldgeiler, katholischer Priester, ein Schullehrer und selbsternannter Historiker, hat schon damals behauptet, dass ihn die jüdische Familie vor ihrer Deportation aufgesucht hätte, um ihm anzuvertrauen, dass das Zinshaus nicht freiwillig an meinen Vater abgetreten wurde. Das war natürlich ein typischer Schachzug dieser verfluchten Judenbrut. Zum Glück war dieser Priester in der damaligen politischen Landschaft schon schlecht angeschrieben. Er war bekannt als Judenversteher und, mindestens ebenso schlimm: Er hat sich uns jungen Mädchen unsittlich genähert. Das haben ich und ein paar andere Mädchen aus der Klasse beim Direktor unserer Schule zu Protokoll gegeben. Daraufhin wurde dieser Johann Gruber vom Unterricht weg verhaftet und nach Gusen ins KZ verfrachtet, wo er auch gestorben ist. Und jetzt plötzlich kommt diese alte Irre anmarschiert, die auch eine Gruberschülerin war, und behauptet, ich und die anderen Mädchen hätten gelogen und dieser Priester hätte die Wahrheit gesagt.«
»Und warum hat sie damit so lange gewartet?«, fragte Timo.
»Weil jetzt in irgendeinem Nachlass ein Dokument von diesem Gruber aufgetaucht ist, das ihre Aussagen angeblich beweist. Und falls dieses Dokument tatsächlich existiert, dann könnte sie uns damit dein Erbe streitig machen.«
»Und wo ist dieses Dokument?«, wollte Timo wissen.
»Das ist genau die Frage«, sagte seine Großmutter, »weshalb wir beide jetzt hier sitzen. Wir müssen herausbekommen, wo sie wohnt. Dann sehen wir weiter.«
»Aber was sie behauptet, stimmt doch nicht, oder?«
»Natürlich nicht«, sagte Porofsky, »aber in politisch verworrenen Zeiten wie diesen führen auch bloße Behauptungen zu Untersuchungen, die höchst unangenehm werden können. Auch wenn wir viele von diesen Ratten ausgerottet haben, gibt es immer noch genug, die plötzlich aus irgendwelchen Löchern kriechen und Besitzansprüche geltend machen, die in so politisch überkorrekten Zeiten wie den unseren leider geprüft werden. Und damit das unter keinen Umständen passiert, müssen wir dieses verfluchte Miststück stoppen!«
»Was meinst du mit stoppen?«, fragte Timo.
»Das lass meine Sorge sein …«
Mit einiger Genugtuung registrierte die alte Frau, dass sie ihren Enkel in einer Tiefenschicht getroffen hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, dass etwas von ihr Gesagtes Bedeutung gewann in einer Welt, die sich abgesehen von einem starken, einseitigen finanziellen Band längst von ihren Vorstellungen entkoppelt hatte. Werten, die ihr hoch und heilig waren, Familie, Rassenreinheit, Besitz, stand dieser Schwächling gleichgültig gegenüber. Solange er seinen Porsche fuhr und sich eine Identität als Naturfotograf suggerierte, war er mit seiner kleinen Welt zufrieden. Dass sein Vater Gert im Gefängnis saß, weil er die Fackel hochgehalten hatte, das hatte dieser Weichling schon nach der ersten Woche verdrängt. Wie konnte ein Apfel nur so weit vom Stamm fallen? Immerhin, wenn sein Besitz in Frage stand, fing sogar dieser faule Apfel an zu rollen. Vielleicht war es doch noch nicht zu spät. Und vielleicht würde diese unsägliche Angelegenheit dazu beitragen, aus Timo einen ähnlich wehrhaften, tatkräftigen Mann zu machen wie seinen Vater.
»Das könnte sie sein«, sagte Timo und zeigte hinüber auf die Figur einer alten, kleinen Frau, die soeben durch die elektrische Schiebetür der Altersresidenz ins Freie trat.
»Ja, das ist sie«, bestätigte Dorothea Porofsky mit einem sardonischen Grinser, »drück ab.«
»Was glaubst du, was ich hier tue?«, fragte Timo. »Die Fotos werden spitze.«
»Und jetzt fahr ihr nach«, befahl seine Großmutter, »aber immer schön vorsichtig.«
»Du nervst sowas von«, jammerte ihr Enkel.
»Daran wirst du dich gewöhnen müssen.«
Frau Wagner überquerte die Straßenbahnschienen und bog ein in die Sonnensteinstraße.
»Sie geht zum Busbahnhof«, sagte Timo.
»Dann nichts wie hin«, sagte seine Großmutter.
Am Bahnhof angekommen stieg die alte Frau in einen Bus Richtung Steyr. Timo folgte dem Fahrzeug in wechselnden Abständen, sodass seine Großmutter keinen Grund hatte, sich über mangelnde Vorsicht zu beschweren.
Unsäglich waren nur die vielen Zwischenstopps, die dieser Pemperlbus an allen möglichen und unmöglichen Haltestellen diverser Schweinsnester einlegte. Als er über die erste größere Hügelkuppe nach Linz hinausgefahren war und den kleinen Ort St. Hippolyt erreichte, berühmt für eines der größten Barockstifte Europas, stieg Frau Wagner aus. Sie bemerkte weder den roten Porsche, der keine hundert Meter von der Haltestelle entfernt an einer Bordsteinkante lauerte wie ein geducktes sprungbereites Raubtier, noch dessen Insassen, die jeden einzelnen ihrer Schritte aufmerksam verfolgten.
»Steig aus und geh ihr nach!«, befahl Frau Porofsky.
Der Enkel tat, wie ihm geheißen, und folgte mit dem Fotoapparat im Anschlag der alten Irren, die im Stiftshof nicht in den Haupteingang abbog. Stattdessen bewegte sie sich weiter an der Fassade entlang, gelangte schließlich zur Basilika, ging auch dort am Eingang vorüber und marschierte weiter über den Friedhof. Timo hatte alle Füße voll zu tun, um Frau Wagner nicht aus den Augen zu verlieren. Mit gezücktem Fotoapparat, einen Touristen mimend, folgte er der alten Frau in einem Abstand von etwa einhundertfünfzig Metern und sah gerade noch, wie sie in einem Seiteneingang des Stiftes verschwand. Was jetzt? Timo fragte sich, ob er warten