Organisationale Resilienz
In Krisensituationen (wie etwa in der zur Zeit des entstehenden Buches virulenten Corona-Pandemie) lässt sich grundsätzlich schlecht planen und antizipieren, jeder Moment kann noch so optional gedachte Pläne (sogenannte Szenarien) umstossen – situativ-reflexives Handeln und das Aushalten von Nichtplanbarkeit sind gefragt. Werden Krisensituationen jedoch, spätestens nachdem sie bewältigt wurden, systematisch ausgewertet, entwickeln sich nicht nur bei den beteiligten Individuen Widerstandskräfte. Resilienz entsteht ebenso auf der Ebene von Teams und Organisationen. Handlungscharakteristika von hoher organisationaler Resilienz haben Weick und Sutcliffe (2016) vor allem bei sogenannten high reliability-Organisationen herausgearbeitet;
Kennzeichen von resilienten Handlungsmustern der Bewältigung sind dabei:
▸wiederkehrende und identitätsstiftende Handlungen beibehalten, Handlungsrepertoire ausdehnen, handlungsfähig bleiben und Improvisationsfähigkeit entwickeln (Strukturen aufrechterhalten, wo möglich, und modifizieren, wo nötig);
▸versuchen, neue Situationen einzuschätzen, gleichzeitig weiterhandeln und die Situationen (mit-)gestalten (nicht warten, bis die Krise vorbei ist);
▸den Berichten anderer vertrauen, ehrlich von eigenen Beobachtungen berichten, Präsenz zeigen und ansprechbar sein;
▸gemeinsam Konzepte mit (neuen) Wahrnehmungen verknüpfen und modifizieren;
▸Erwartungen (bezogen auf die aktuelle Situation) klarstellen, begrenzen, aktualisieren und dadurch die «disruptive Energie unerwarteter Ereignisse» reduzieren;
▸eher kuratieren als antizipieren, Sorge tragen in der Gegenwart (schnelle Feedbackprozesse einrichten) statt planen.
Organisationale Resilienz ist damit eine Mischung aus Erfahrungen, fortlaufendem Handeln und intuitiver Neukombination – immer jedoch auf der Basis einer minimalen Grundstruktur.[9]
Für die Führung in Organisationen bedeutet dies das Zur-Verfügung-Stellen von Strukturen und von (informellen und formalen) Gefässen der Reflexion, Zulassen von Zweifeln, Klären von Erwartungen sowie Pflegen einer sorgenden Haltung – dies alles in einer verantwortungsvollen und entscheidungsfreudigen Moderation.
Improvisation und Organisation
Spätestens seit dem 1995 in Vancouver von der Academy of Management ausgerichteten Kongress Jazz as a metaphor for organizing in the 21th century (Kamoche et al., 2002), wird Improvisation nicht mehr rein negativ – als Verlegenheitslösung und Planungsdefizit – konnotiert. Dell (2012, S. 129) spricht in der Folge dieser Diskussionen gar von einem improvisational turn in der Organisationstheorie. Auch für Weick[10] ist die Improvisation – als just in time strategy – eine «Geisteshaltung», die im manageriellen Handeln bedeutsam wird, als «gleichzeitiges Denken und Handeln, gleichzeitiges Aufstellen und Befolgen von Regeln […]. Handeln, das auf Codes basiert, permanenter Wechsel zwischen Erwartetem und Nicht-Erwartetem, und schliesslich eine grosse Abhängigkeit von intuitivem Erfassen» (Weick, 1998, zitiert in Rüsenberg, 2004, S. 206).
Demnach ist in einer improvisierenden Organisation ein konstruktiver Umgang möglich mit schlecht strukturierbaren situativen Anforderungen, wie sie in Abbildung 2 gekennzeichnet werden und bei den Akteuren «produktive Unruhe» auslösen: «Improvisation erkennt Unordnung an und versucht mit den Potenzialen, die in einer Situation vorhanden sind, zu arbeiten. Improvisation bedeutet dann, mit den Materialien der Wirklichkeit zu arbeiten und gleichzeitig diese Wirklichkeit mit zu gestalten» (Dell, 2012, S. 127).
Selbstverständlich wird nach wie vor in vielen Organisationen seriös geplant sowie überwiegend nach vorgegebenen «Partituren» gespielt und nur in Ausnahmesituationen improvisiert. Wenn eine hohe Betriebssicherheit entscheidend ist, sind wir alle froh, dass Mitarbeitende vor- und umsichtig mit Improvisationen umgehen. Nicht zuletzt treffen gerade in Expertenorganisationen Kulturen der Improvisation auf solche von notwendigerweise standardisierten Abläufen; beide sind notwendig und gerechtfertigt und beide benötigen ein Verständnis der anderen «Spielweise».
Improvisierendes Handeln ist jedoch sinnstiftend für Anforderungen, die ein flexibles und innovatives Vorgehen verlangen sowie für Situationen, in welchen man Routinen und Muster verändern und Bewegungen erzeugen möchte.
Eine «Improvisierende Organisation» (Dell, 2012) ermöglicht dann, fördernd mit komplexen Anforderungen umzugehen. Diese Akzentsetzung bedeutet jedoch auch hier nicht, dass in Organisationen bei jeder Gelegenheit improvisiert werden sollte. Auch im Jazz geht es letztlich nicht darum, ob und wie häufig improvisiert wird. Entscheidend ist eine improvisierende Haltung (vgl. hierzu auch den Beitrag von Kuhn, S. 154) und die Bereitschaft bei Unerwartetem das Handlungsrepertoire zu modifizieren.
Trotz offensichtlicher Parallelen hat die metaphorische Verwendung von Jazz in Organisationen auch Grenzen[11]: Neben der Grundhaltung, improvisieren zu wollen, setzt das Improvisieren unbedingtes Können voraus. Eine weitere Voraussetzung besteht darin, dass sämtliche «Mitspielende» kompetent sowie bereit und fähig sind, eigenverantwortlich zu handeln. In der Realität sind diese Voraussetzungen jedoch sowohl im Jazz als auch in Organisationen nicht immer erfüllt.
Abschliessend lässt sich somit festhalten, dass – entgegen der landläufigen Meinung – Improvisieren kein ungeplantes, sondern ein situatives und prozessorientiertes Handeln ist. Improvisierendes Handeln beinhaltet – sowohl für Individuen als auch für (Bildungs-)Organisationen – die gegebenen Handlungsräume permanent zu hinterfragen sowie für das Erweitern der Spielräume offen zu sein. Wenn wir uns als Individuen und als Organisationen als offen-prozesshaft und nicht als geschlossen-strukturell verstehen, reflektieren und handeln wir sowohl als Individuen als auch organisational in situativer Bewegung. Dies meint eben nicht, gescheiterte Pläne einfach nachzubessern. Improvisieren ist keine Verlegenheitslösung im Fall von Pannen oder Fehlern. Improvisieren ist ein konstruktiver Umgang mit dem, was unmittelbar gegeben und damit gefordert ist – auch wenn dies nicht so erwartet wurde.
Literatur
Argyris, Chris (1997). Wissen in Aktion. Stuttgart: Klett Cotta.
Argyris, Chris & Schön, Donald A. (1996). Organizational learning II. Reading, MA: Addison-Wesley.
Argyris, Chris & Schön, Donald A. (2002). Die lernende Organisation. 2. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta.
Bateson, Gregory (1972). Steps to an ecology of mind. New York: Ballantine.
Barrett, Frank J. (1998). Creativity and improvisation in organizations: Implications for organizational learning. In: Organization Science, 9(5), S. 605–622.
Böhle, Fritz (1989). Körper und Wissen – Veränderungen in der soziokulturellen Bedeutung körperlicher Arbeit. In: Soziale Welt, 40, S. 497–512.
Böhle, Fritz (Hrsg., 2017). Arbeit als Subjektivierendes Handeln. Handlungsfähigkeit bei Unwägbarkeiten und Ungewissheit. Wiesbaden: Springer VS.
Biehl-Missal, Brigitte (2011). Wirtschaftsästhetik. Wie Unternehmen die Kunst als Inspiration und Werkzeug nutzen. Wiesbaden: Gabler.
Dell, Christopher (2002). Prinzip Improvisation. Kulturwissenschaftliche Bibliothek, Band 22. Köln: Walther König.
Dell, Christopher (2012). Die improvisierende Organisation.