Das Editorialboard der Reihe:
Geri Thomann, Monique Honegger, Daniel Ammann, Dagmar Bach, Erik Haberzeth und Tobias Zimmermann
Abteilung Hochschuldidaktik und Erwachsenenbildung PH Zürich
Improvisation? Braucht es für Orientierungslosigkeit neuerdings eine andere Bezeichnung?
Geri Thomann und Monique Honegger
Einleitung – Funktionen von Improvisieren in Bildung
Vorliegender Band fokussiert ein Thema, das bislang kaum im Brennpunkt hochschuldidaktischer und erwachsenenbildnerischer Aktualität war: Improvisation. Improvisation führt als Begriff ein Doppelleben: Während sie in Kunst (Musik, Tanz, Performance) oft positiv gewertet wird, gilt sie in anderen Tätigkeitsfeldern (etwa in der Bildung) häufig als Indikator des Mangels; wenn vermeintliche Fehlplanung kompensiert wird, wird dies im Bildungsbereich in der Alltagssprache gern «Improvisieren» genannt.
In der einschlägigen deutschsprachigen pädagogischen Literatur findet sich der Begriff «Improvisation» interessanterweise kaum – mit wenigen Ausnahmen (Danner, 2001), obwohl sich gesellschaftssoziologische und organisationstheoretische Konzepte seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts mit Begriffen wie «Risiko», «Unvorhersehbarkeit», «Ungewissheit» oder «Multioptionalität» beschäftigen.
Beck (2003) beschrieb mit gesellschaftlicher Perspektive das «untragbare Joch der praktischen Irrtumslosigkeit», vom Menschen, welcher zur «Fehlerfreiheit verdammt» ist, was bei der wachsenden Risikopotenzierung eine Vernebelung von Tatsachen sei. Er plädierte dafür, Entwicklungen, die Irreversibilität schaffen, zu vermeiden und stattdessen Raum für Irrtümer und Korrekturen zu lassen. Durch die Revidierbarkeit von Entscheidungen bleibe die Zurücknahme später erkannter Nebenwirkungen möglich; die Fehler- und Irrtumsbehaftetheit menschlichen Denkens und Handelns sei die «bestbestätigte und sympathischste Theorie» (Beck, 2003, S. 293 f.). Damit plädierte er mit unseren Worten dafür, die Zielfixierung improvisierend zu flexibilisieren, aber auch dafür, Handeln nicht einfach aufgrund der Risikolage zu unterlassen.
Gesellschaftliche Konzepte beschwören das «Ende der Eindeutigkeit» (Bauman, 1995) im Zusammenhang mit einer Abkehr von einer passiv-teleologisch-ergebenen Haltung des Menschen zu einem postmodernen Risikoverhalten; die Forderung, universale (religiöse) Prinzipien radikal zu verwirklichen, scheint in der postmodernen Vielfalt nicht mehr haltbar zu sein. Das Zauberwort unserer Existenz hat sich schon seit Längerem von «Schicksal» zu «Problem» gewandelt. Diese soziologische Perspektive aus den 80er- und frühen 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts führt bis in die Gegenwart zu dezidierten Aussagen über gesellschaftliche oder organisationale Phänomenen wie «Risiko» (Dufourmantelle, 2018) oder «Scheitern» (Kunert, 2016).
Im selben Zeitraum dominiert(e) paradoxerweise im Gegensatz dazu die sogenannte «Kompetenzorientierung» den Bildungsbereich. Diese betont zwar die Individualität von Lernprozessen und die stets zu berücksichtigende Einzigartigkeit sämtlicher Lernenden, präsentiert sich jedoch konzeptionell als ein planmässig zu durchlaufendes, «nach oben» führendes Stufensystem, das wenig Raum für ungeplante und spontane Entwicklungen und Bewegungen bietet – weder für Lehrende noch Lernende (Sieber,
Wo bleibt in diesem Rahmen das Risiko oder die Option des Scheiterns?
Scheinbare Planbarkeit oder Vollständigkeit des zu Lernenden wird offensichtlich im Bildungskontext als Illusion aufrechterhalten, obgleich der Anspruch nie zur Wirklichkeit passt (vgl. Beiträge von Thomann, S. 46, Honegger, S. 68, und Kröger, S. 96)
Immerhin zeigen in der aktuelleren didaktischen Literatur einschlägige Titel, dass diesbezüglich Bewegung entsteht, zum Beispiel «Ungewissheit als Herausforderung für pädagogisches Handeln» (Paseka, Keller-Schneider und Combe, 2018), «Agile Hochschuldidaktik» (Arn, 2016), «Scheitern als Ziel» (Schiefner-Rohs, 2019) oder «Exploring and learning from failure in facilitation» (Bomann & Yeo,
Doch nun zur Gegenwart, also der Zeit während des Entstehens vorliegender Beiträge. Zwar sind interpretierende Einordnungen der Gegenwart stets etwas keck, wir wagen es trotzdem. In der Covid-19-Krise veränderten sich sämtliche Abläufe des öffentlichen Lebens aufgrund staatlich verordneter Interventionen. Diese wirkten sich auch massgebend auf den Bildungsbetrieb aus: So mussten etwa sämtliche Hochschulen und Erwachsenbildungsanbieter ihr Präsenzangebot einstellen und auf distance learning oder hybride Angebote umsteigen. Dies führte teilweise zu hilflosen, aber ebenso auch zu zahlreichen kreativen Versuchen, Lehr-/Lernsituationen anzupassen und anders zu gestalten. Inwiefern sich der vormals «gut» organisierte und weniger auf Improvisieren eingestellte «Normalzustand» von «vor Covid-19» wiederherstellen lässt oder überhaupt lassen soll, wissen wir zum Zeitpunkt der Drucklegung des vorliegenden Bands noch nicht. Es scheint eher eine andere «Normalität» der Gegenwart ohne die gewohnte Zukunftsplanung zu entstehen. Werden wir wieder in ruhigere Fahrwasser gelangen oder wird sich das Fahrwasser beruhigen?
Die Auseinandersetzung mit Ungewissheit gilt für alle Lebensbereiche, sie wird zur lebensbegleitenden Anforderung und keineswegs zum Sonderfall, bis das «Schiff wieder in ruhiges Fahrwasser» gelangt ist und alte Routinen wieder die Oberhand gewinnen können.
(Sauer & Trier, 2012, S. 260)
Ungewissheit spielt stets mit und braucht entsprechende Improvisation – so unsere Prämisse; und es braucht Improvisation keineswegs nur, um Restrisiken oder ungeplante Nebenwirkungen zu minimieren. Vielmehr müssen soziale und professionelle (Alltags-)Handlungen in der neuen Situation überprüft und allenfalls modifiziert werden, die «andere» oder mitunter «neue» Gegenwart muss gestaltet werden, ohne zu wissen, was die Zukunft genau mit sich bringt. Es geht darum, das Potenzial der Situation (besser) zu nutzen (s. Beiträge von Wehner & Thomann, S. 24, und Thomann, S. 46).
Improvisierend zu handeln und zu lernen, mit Unvorhersehbarem umzugehen, war unbestritten bereits vor der Covid-19-Krise in der täglichen Bildungsarbeit eine relevante Konstante – auch wenn dafür pädagogische Modelle weitgehend fehlten.
Immerhin: Classroom-Management-Forscher Walter Doyle (nach Doyle in Dick, 1996, S. 74 ff.) schlüsselte (nicht ganz zufällig) in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts