Sammeln (E-Book). Beate Blaseio. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Beate Blaseio
Издательство: Bookwire
Серия: Phänomene
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783035514407
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Mehrzahl der Menschen in deutschsprachigen Ländern gehen oder gingen wenigstens zeitweilig in einer Lebensphase einem Sammelhobby nach (Bausinger 2007) – aktuell geben 23 von 82 Millionen Deutschen an, dieser Freizeitbeschäftigung nachzugehen, also 28 Prozent der Bevölkerung (Kleine/Jolmes 2014, S. I).

      Viele Menschen bezeichnen sich selbst auch als Sammler oder Sammlerin und bekennen sich damit zu ihrem Hobby und Interesse. Es hat sich heute im europäischen Kulturkreis gesellschaftlich fest etabliert, dass Menschen ausgewählte Dinge sammeln. Alles was sammelbar ist, wird auch gesammelt.

      Auch wenn es keine gesicherten Zahlen gibt, wird in der Literatur darauf verwiesen, dass mehr Männer sammeln als Frauen: Angeblich soll bei Männern durch den Besitz einer Sammlung ein stärkeres Macht- und Selbstwertgefühl entstehen als bei Frauen (Dörner 2010).

      Sammler und Sammlerinnen pflegen ein aktives Verhältnis zur Gegenstandswelt und tragen die Dinge, die sich in ihre thematisch begrenzten Sammlungen einfügen lassen, an einem Ort zusammen (Wilde 2015). Sie bewahren mitunter dabei die Gegenstände vor ihrer Bedeutungslosigkeit, erschaffen und retten Kulturschätze. Dieses Erhaltungsstreben ist ein wichtiger Motor von Sammelnden.

      Durch das Einfügen von Objekten in eine Sammlung werden die Dinge ihrem ursprünglichen Kontext, Nutzungsbereich und oft auch ihrer Funktion entzogen, und stattdessen werden neue Zusammenhänge zwischen den Dingen einer Sammlung geschaffen und neue Erkenntnisse möglich. Es findet so eine Neubewertung der Gegenstände statt.

      Die Aufnahme eines Gegenstands in eine Sammlung bewahrt vor dem Vergessen, Verschwinden oder Wegwerfen und führt die Dinge in eine zweite, zumeist passive Verwendung ihres Daseins, jenseits der ersten, ursprünglichen und aktiven Funktion (Bausinger 2007; Schmidt 2016). Ein Beispiel verdeutlicht diesen Funktionswechsel: Während ein Nussknacker in seiner ersten Funktion in einem Haushalt Menschen konkret hilft, Nüsse zum Essen zu öffnen, ist diese Funktion für den Sammler und die Sammlerin unerheblich – wer braucht schon 100 Nussknacker in einem Haushalt zum Öffnen von Nüssen?

      Es ist aber nicht zu vergessen, dass es auch Sammelgegenstände gibt, die ausschließlich für Sammlungen hergestellt werden. Sie sind nur für die Sammlung bedeutsam und haben darüber hinaus keinen Nutzungswert. Hier wird also die erste Stufe ausgelassen, und die Dinge werden gleich als passive Artefakte einer Sammlung zugeführt (z. B. Panini-Bilder).

      Der Wunsch, eine komplette Sammlung zu haben, ist die Triebfeder der Sammelnden. Oft ein paradoxer Aspekt, weil die Sammlerinnen und Sammler wissen, dass (so gut wie nie) Vollständigkeit erreicht werden kann, da es eine Begrenztheit und damit ein Ende der Sammlung zumeist nicht gibt (Schulz 2009). Die Sammelgebiete sind in der Regel so zugeschnitten, dass die Sammlung unbegrenzt fortgeführt werden kann: Kuckucksuhren, Pillendosen oder Kugelschreiber – es gibt nach dem letzten Sammelobjekt immer noch ein weiteres.

      Sammler und Sammlerinnen geben sich oft ihrer Sammlung hin, verbringen viel Zeit damit. Sie sind Expertin, Fachmann, Kennerin und Spezialist für ihr Sammelgebiet. Wenn Einzelpersonen sammeln, dann ist das immer auch ein Ausdruck von Privatheit und findet (zunächst) unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt (Wilde 2015). Circa 80 Prozent der Sammelnden nennen Freude als Motiv für ihr Sammeln (Kleine/Jolmes 2014, S. 19): Sammeln wird von ihnen als Bereicherung des Alltagslebens empfunden, und die Zeit mit der Sammlung betrachten Sammelnde als die schönsten Stunden (Duncker 2010).

      Sammler und Sammlerinnen geben den Dingen Sinn und Ordnung, und die Objekte bieten den Sammlern und Sammlerinnen wiederum Orientierung und Halt (Wilde 2015). Man kann hier von einer Win-win-Situation sprechen.

      «Nur ein Sammler versteht einen

      Sammler. Leute, die mit Sammeln nichts

      am Hut haben, die sagen:

      Was für ein Spinner. Wie kann man nur?

      Was macht der da?»

      (Füllfederhalter-Sammler Jens

      Schulz, zitiert in Wilde 2015, S. 11)

      WARUM SAMMELT DER MENSCH?

      Sammeln ist eine aktive Aufgabe und eine absichtsvolle Tätigkeit (Wilde 2015): Viele Aktivitäten sind mit einer Sammlung verbunden: ordnen und sortieren, pflegen, bestimmen, präsentieren und ausstellen, recherchieren, anordnen, suchen und finden, bewahren, weitergeben, um nur einige zentrale Beschäftigungen zu nennen, die mit einer Sammlung verbunden sind. Sammeln verbindet den menschlichen Wunsch nach Sein (kreative Aktivitäten rund um die Sammlung) und Haben (Besitz der Objekte einer Sammlung).

      Die Fotografin Hannah Schuh bezeichnet Sammeln als einen Instinkt: Den Sammler oder die Sammlerin reize weniger der Besitz von Dingen, zentraler sei das Strukturieren und Systematisieren dieser Dinge durch die Herstellung und Aufrechterhaltung einer selbst manipulierbaren Ordnung. Die Bedürfnisbefriedung durch Herstellen von Ordnung setze Glücksgefühle frei (Schulz 2009).

      Ein Motiv des Sammelns kann sein, einen Überblick in einer immer unüberschaubareren, hektischen, vergänglichen Zeit zu behalten und sich als Gegenpol eine «heile Welt» mit einer Sammlung zu schaffen: Sammlungen können Sicherheit, Stabilität und Kontinuität geben (Bausinger 2007).

      Sammlungen können aber auch den eigenen Wissens-, Geltungs- und Machtdrang befriedigen und bieten Möglichkeit zur Selbstdarstellung und Inszenierung: Sammeln kann gesellschaftliche Akzeptanz bringen, auch wenn diese bei den einzelnen Sammelgebieten sehr unterschiedlich sein kann (Engelfried 2010). Während Bücher und Uhren als hoch angesehene Sammelobjekte gelten, ist dies für Panini-Bilder und Barbiepuppen weniger der Fall.

      Sich in der Wohnung mit schönen, geliebten Dingen zu umgeben kann Sicherheit, Orientierung und ästhetische Zufriedenheit bieten (Karch/Robertson 2015). Eine schöne Sammlung kann einen Menschen mit Stolz erfüllen, und der Wunsch nach Kreativität und Gestaltung kann durch das Anlegen und Pflegen einer Sammlung befriedigt werden. Für viele Sammelgebiete existieren Fachcommunitys, in denen ihre Angehörigen Anerkennung finden.

      Zusammengefasst: Warum nimmt man die Kraftanstrengung und (finanziellen) Investitionen auf sich, um etwas zu sammeln? Das Sammeln kann als Sinn stiftende, kontinuierliche, kreative und lustvolle Tätigkeit erlebt werden, es kann die humanen Bedürfnisse nach Macht über die Dinge befriedigen und Anerkennung verschaffen.

      SAMMELN ALS PROBLEM

      Neben den positiven Aspekten, sind auch die Probleme zu beleuchten, die das Sammeln mit sich bringen kann: Außerhalb des Sammelgebiets wirken so manche Sammelnde als Spinner, Exotinnen oder gar als Verrückte. Eine unbändige Sammelleidenschaft kann tatsächlich krank machen und zu einem isolierten Leben führen, wenn man sich zu stark auf eine Sammlung einlässt und dadurch andere Dinge des Lebens vernachlässigt. Der Rückzug aus der Gesellschaft aus Überinteresse und Ehrgeiz an der Sammlung (Einzelgängertum) sowie finanzieller Bankrott aufgrund unvernünftigen Handelns (Kaufzwang) beim Erwerb neuer Sammlungsobjekte sind zwei zentrale Folgen der Sammelsucht (Bausinger 2007). Sammeln kann zum Wahnsinn werden, wenn man zu viel festhalten möchte und zu wenig loslassen kann (Sommer 2018; Duncker 2010). Genau das gleiche Phänomen liegt auch beim Messie-Syndrom vor: Menschen mit diesem Syndrom haben ein zwanghaftes Bedürfnis, alles zu horten – auch eine Form des Sammelns.

      SAMMELN IM 21. JAHRHUNDERT

      Unendlich viele Merchandising-Produkte (Zusatzprodukte wie T-Shirts oder Tassen, z. B. zu Figuren aus Filmen) werden heute angeboten. Sie werden oft als reine Sammelobjekte verkauft; der Funktionswert ist reduziert. Es geht vor allem um das Wecken des Kaufinteresses, leider oft auf Kosten der Umwelt (Wegwerfgesellschaft).

      Die Digitalisierung bietet die Chance, mit anderen Sammelnden schnell in Verbindung zu treten und sich in Foren direkt auszutauschen. Objekte können online bestellt und langes Suchen dadurch abgekürzt werden. Im Netz können die Sammlungen auch präsentiert werden.