Der Geist weitet sich, die Welt schrumpft; die Sehnsucht steigert sich
Die Vollendung: der Heimgang Benedikts
Das Leben Benedikts weist den spirituellen Weg zum Himmel
Zur Einführung: eine Lebensbeschreibung als spirituelle Anleitung
Vor etwa 1400 Jahren griff Papst Gregor der Große, ein meisterhafter spiritueller Autor seiner Zeit, zur Feder, um das Leben des heiligen Mönchsvaters Benedikt zu beschreiben. An einer sachlichen Biografie war er allerdings nicht interessiert. Deshalb wählte er für seine Lebensbeschreibung des heiligen Benedikt eine besondere literarische Gattung: Er fügte sie als zweiten ausführlichen „Dialog“ mit einem Diakon namens Petrus in sein Werk „Vier Bücher der Dialoge“ ein. In diesen Büchern ging es ihm darum, die Wundertaten von fünfzig Heiligen in Italien zu schildern und aus ihnen Weisheiten und Anregungen für das spirituelle Leben abzuleiten.
Dazu komponierte er seinen Text folgendermaßen: Im ersten Dialog schilderte er die Wundertaten von zwölf Heiligen; im zweiten ganz ausführlich diejenigen des heiligen Benedikt sowie dessen Leben als Vorbild für ein Christenleben im Diesseits; im dritten die Wundertaten von siebenunddreißig weiteren Heiligen und im vierten Betrachtungen über den Tod und das Jenseits.
Eine zentrale Rolle spielte dabei also seine Beschreibung des Werdegangs des heiligen Benedikt. Fakten standen ihm dafür nur spärlich wenige zur Verfügung. Gleich zu Anfang räumt er selbst ein: „Alle seine Taten habe ich nicht selbst mitbekommen, aber das Wenige, das ich erzähle, weiß ich aus Schilderungen von vier seiner Schüler“. Wichtiger war ihm, ein Leben Benedikts mit Lebensstationen und Taten vorzustellen, die seinen Lesern einen allgemein gültigen inneren Weg zur Erfahrung Gottes aufzeigten.
Zu diesem Zweck wählte er als Form die Gattung der Heiligenlegende, also einer Geschichte, die historia legenda war, eine „Geschichte zum Vorlesen“ mit vielen symbolischen Bildern und Ausmalungen, die der Inspiration und Herzensbildung dienen sollten.
Nur an einer einzigen Stelle brachte er Benedikt in direkten Kontakt mit einem Faktum der Zeitgeschichte, das sich genau datieren lässt. Im 14. Kapitel erzählt er, Benedikt sei auf Monte Cassino von König Totila besucht worden. Totila war seit 541 in Italien König der Ostgoten und könnte tatsächlich in der zweiten Hälfte des Jahres 546 nach Monte Cassino gekommen sein. Historisch sicher ist, dass er am 17. Dezember 546 Rom eroberte.
Im 15. Kapitel fügte Gregor daran noch an, Bischof Sabinus von Canusium in Apulien sei eines Tages zu Benedikt gekommen und habe sich mit ihm „über den Einzug des Königs Totila in Rom und den Untergang der Stadt“ unterhalten. Auch von diesem Bischof Sabinus sind historische Daten bekannt.
Aus diesen Angaben lassen sich ungefähre Lebensdaten Benedikts erschließen. Bischof Sabinus muss ihn nach dem 17. Dezember 546, an dem Rom erobert wurde, besucht haben, und zwar allerspätestens 566, denn in diesem Jahr, so ist bekannt, verstarb er. Was Benedikt angeht, muss dieser folglich bestimmt bis Ende 546 gelebt haben und kann also frühestens 547 verstorben sein.
Von diesen Daten ist man ausgegangen, hat eine maximale Lebensdauer Benedikts von 70 bis 80 Jahren veranschlagt und folglich für seine Geburt eines der Jahre zwischen 480 und 490 angesetzt, für seinen Tod die Jahre zwischen 547 und 560.
Abgesehen von diesen Daten liefert Gregor praktisch keine historischen Fakten. Er war an solchen nicht interessiert, sondern wollte, wie der Untertitel dieses Buchs ankündigt, eine spirituelle Anleitung schreiben.
Ein „verinnerlichtes Mönchtum“ für die heutige Welt
Papst Gregors Text blieb nicht nur eine allgemeine Anleitung für das innere Leben, sondern er gewann auch zahllose Männer und Frauen für das Mönchsleben nach der Regel, die von seinem Benedikt stammen soll – was aber in der Forschung umstritten ist.1
Diese Erfolgsgeschichte führte schließlich dazu, dass Papst Gregors Schilderung zunehmend als Erbauungsschrift für klösterliche Insider angesehen wurde, für „Weltmenschen“ jedoch eine Wundergeschichte aus einer anderen Welt darstellte.
Das „Jahr der Orden“, das Papst Franziskus für 2015 angeregt hat, ist besonders dazu angetan, diesen alten Text aus seinem klösterlichen Umfeld hervorzuholen und als Inspiration auch für Menschen in der heutigen Welt zu erschließen.
In Wirklichkeit gibt es natürlich gar keine zwei verschiedenen Welten, also die Welt derjenigen in den Klöstern und die Welt derer „draußen“. Das könnte ein wichtiges Thema für dieses „Jahr der Orden“ sein. Der orthodoxe Theologe Paul Evdokimov2 hat schon vor jetzt genau fünfzig Jahren die Überzeugung geäußert: „Die Krise, die fast überall das Mönchtum durchzieht, kann einen auf den Gedanken bringen, dass da ein historischer Zyklus zu Ende geht. Das Mönchtum hat nach dem gesucht, was uns Menschen unendlich übersteigt. Diese Dimension hat es der Menschheit insgesamt erschlossen. Damit bewahrte es die Welt vor der schlimmsten Genügsamkeit, nämlich dem Glauben nur an sich selbst, dem Kreisen nur um sich selbst, der Vergötzung nur seiner selbst.
Die mönchische Askese durchzog einmal alle soziologischen Schichten. Sie spielte dabei eine entscheidende pädagogische und prophylaktische Rolle. Die Mönche pflegten das Gebet und die Anbetung und entwickelten die Kunst der Unterscheidung der Geister und der verborgenen Gedanken. Mit ihrer Kultur der spirituellen Achtsamkeit und ihrer Strategie des ‚Kampfes mit dem Unsichtbaren‘ schufen sie einen reinen Spiegel, in dem die Welt sich betrachten und einschätzen konnte.“
Evdokimov fuhr dann fort: „Georgi Florowski3 machte darauf aufmerksam, dass ‚man allzu oft den provisorischen Charakter des Mönchtums vergisst‘. Schon der heilige Johannes Chrysostomos hatte eingeräumt, Klöster brauche man nur, solange die Welt nicht christlich sei. Bekehre man sie, so verschwinde das Bedürfnis einer Trennung von der Welt. Im selben Sinn schrieb der heilige Tichon von Sadonsk4 an die kirchlichen Autoritäten: ‚Bemüht euch nicht unbedingt darum, die Zahl der Mönche zu vermehren. Das schwarze [Mönchs-]Kleid rettet nicht. Wer das weiße [Welt-]Kleid des Gehorsams, der Demut und der Reinheit trägt, der ist ein echter Mönch des verinnerlichten Mönchtums.‘“
Dieser Begriff des „verinnerlichten Mönchtums“, von Evdokimov auf Französisch geprägt: monachisme intériorisé, machte vor fünfzig Jahren die Runde und geriet dann wieder in Vergessenheit. Damit war nicht gemeint, dass jeder Mensch „ein bisschen Mönch spielen“ sollte, sondern dass die Mönche existenziell eine sozusagen archetypische spirituelle Grundhaltung anschaulich vorleben, die innerlich für alle Christen wichtig ist. Sie sollten – wie ein Buchtitel lautet5 – „den Mönch in sich selbst entdecken“. Wenn einmal der Zeitpunkt käme, an dem diese Haltung Allgemeingut der Christenheit geworden sei, werde dieser besondere Stand so gut wie überflüssig, denn dann sei er allgemein verinnerlicht.
Als Evdokimov 1964 schrieb, vermutlich gehe derzeit „ein historischer Zyklus zu Ende“, meinte er, deshalb werde wohl die Zeit der vielen Klöster bald vorbei sein. Ab jetzt genügten einige wenige, die noch plakativ mit ihrer Lebensform äußerlich (und natürlich auch innerlich) diese Spiritualität und Lebenseinstellung vor Augen führen sollten, die es allgemein zu verinnerlichen gelte.
Darüber kann man verschiedener Meinung sein. Tatsache aber ist, dass manches unwillkürlich