Logos Gottes und Logos des Menschen. Heiko Nüllmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heiko Nüllmann
Издательство: Bookwire
Серия: Bonner dogmatische Studien
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429060589
Скачать книгу
Verständnis des Logos Gottes auch immer von einem bestimmten Verständnis der menschlichen Vernunft ausgehen. Doch ein allgemein-einheitliches Verständnis menschlicher Vernunft ist im Kontext der heutigen Pluralität menschlicher Lebensverhältnisse weitgehend verloren gegangen. Die eine Vernunft gibt es nicht mehr, sondern als ‚vernünftig‘ wird gemeinhin das bezeichnet, was in einer bestimmten Situation der Erreichung eines zuvor festgelegten Zieles und Zweckes dient. Dieses Ziel kann z.B. sein, die Strukturen der beobachtbaren Welt möglichst genau zu beschreiben, wie im Falle der naturwissenschaftlichen Vernunft. Es kann aber auch im größtmöglichen Profit für das eigene wirtschaftliche Unternehmen bestehen, wie im Falle ökonomischer Vernunft. Auch moralische Vernunft, die den Schutz der personalen Würde aller Menschen zum Ziel hat, und ökologische Vernunft, die sich dem nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und der Natur verschreibt, sind dann nur noch zwei unter vielen möglichen Rationalitäten, die teilweise auch durchaus, bedingt durch die verschiedenen Zielsetzungen, im Widerspruch zueinander stehen können.

      Diese Kontextualität und Pluralität der Vernunft hat für das Glaubensverständnis fatale Folgen, denn wenn der Glaube seine Vernunftgemäßheit nur an einem oder einigen Vernunftkonzepten unter vielen erweist, welche immer nur kontextabhängige Geltung beanspruchen können, kann er seinen Anspruch auf universal gültige Wahrheit nicht aufrechterhalten. Ihm fehlt dann eine universal gültige Grundlage, auf welche er diesen Anspruch gründen könnte. Deshalb muss Theologie an der philosophischen Bestimmung eines Einheitspunkts menschlicher Vernunftvollzüge interessiert sein, der es ermöglicht, den Glauben mit der einen Vernunft des Menschen zu vermitteln. Darüber hinaus braucht es diesen Einheitspunkt, um auch die Universalität moralischer Maßstäbe vernünftig begründen zu können. Drittens ist eine gemeinsame Vernunft aller Menschen die unabdingbare Bedingung dafür, dass ein zwischenmenschlicher Dialog auf vernünftiger Basis grundsätzlich möglich bleibt.

      Joseph Ratzinger hat in seiner Theologie diese Forderungen an den Vernunftbegriff vielfach zum Ausdruck gebracht und damit bewusst die Herausforderungen der Vernunftpluralität für die Theologie angenommen. Die bewusste Annahme dieses Problems und seine konsequente Bearbeitung machen Ratzingers Denken zu einer eindrucksvollen Demonstration einer Möglichkeit für den theologischen Umgang mit dieser Pluralität und für die Bestimmung eines einheitlichen Vernunftbegriffs, der die Pluralität in sich aufzunehmen vermag. Im Zuge der vorliegenden Arbeit soll dieser Vernunftbegriff Ratzingers analysiert und kritisch betrachtet werden. Wie ist der Einheitspunkt beschaffen, in welchem Ratzinger die vielfältigen Vernunftkonzeptionen vereint, um den genannten wichtigen Anliegen gerecht zu werden? Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Bestimmung von ‚Vernunft‘ für das Glaubensverständnis, das Kirchenbild, die moralische Orientierung und den interreligiösen Dialog? Diese Fragen sollen systematisch zu beantworten versucht werden.

      Beeinflusst sowohl vom hoffnungsvollen Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils, das bewusst den Dialog mit der säkularen Welt suchte, als auch von den theologischen Früchten und Risiken dieses Dialogs, mit denen er sich als Professor und als späterer Präfekt der römischen Glaubenskongregation kritisch auseinandersetzte (und als Papst Benedikt XVI. noch immer auseinandersetzt), ist Ratzingers theologisches Wirken schon von seiner Biografie her nachhaltig vom Dialog der Theologie mit der säkularen Vernunft bestimmt. Sein Verständnis des Vernunftbegriffs stellt deshalb das Produkt eines langen Reflexionsprozesses dar, der philosophisch-theologische und lebenspraktische Einsichten miteinander vereint und auf beiden Gebieten um Chancen und Gefahren für Glaube und säkulare Vernunft weiß, die mit der Bestimmung des Vernunftbegriffs zusammenhängen.

      Um diese praktisch-theoretische Vielfalt im Denken Ratzingers widerzuspiegeln, wurden in dieser Arbeit zur Darstellung seiner Konzeption neben seinen schwerpunktmäßig behandelten zahlreichen wissenschaftlichen Werken auch die von ihm veröffentlichten Interviewbände, einige seiner Predigten und Meditationen sowie seine drei bisher veröffentlichten päpstlichen Enzykliken herangezogen. Auf diese Weise wird ein vielschichtiges Bild vom Vernunftkonzept Ratzingers gezeichnet, das bei aller Einheitlichkeit und Konsistenz auch einzelne Entwicklungsstränge im Denken Ratzingers aufzeigt.

      Hinsichtlich dieser Entwicklung sei ein Ergebnis der Arbeit bereits vorab erwähnt: Wenn Ratzinger immer wieder einen mit den Studentenunruhen von 1968 in Zusammenhang gebrachten ‚Bruch‘ in seinem Denken abstreitet, so wird man ihm hinsichtlich der Grundlagen dieses Denkens recht geben müssen. Es sind Konstanten darin auszumachen, die sich von seiner Dissertation bis zu seinem bereits als Papst Benedikt XVI. veröffentlichten ersten Jesus-Buch durchhalten. Seine theologische Schwerpunktsetzung hinsichtlich dieser Konstanten verschiebt sich allerdings tatsächlich mit der Zeit, sodass unabweisbare Entwicklungen, z.B. von einem mehr heilsgeschichtlich orientierten Denken hin zu einem metaphysisch orientierten Denken, nicht von der Hand zu weisen sind. Diese Verschiebungen lassen sich als Reaktion auf theologisch-philosophische und gesellschaftliche Strömungen erklären, welche in den Augen Ratzingers im Begriff sind, die Einheit der Vernunft und damit die Kategorie einer universal gültigen Wahrheit aufzulösen.1

       0.2 Gliederung und Inhalt der Arbeit

      Der Einheitspunkt der Vernunft wird von Ratzinger bestimmt, indem er den vielfältigen Bezug der menschlichen Vernunft zum einen Logos Gottes herausstellt, der dabei als die implizite Voraussetzung menschlicher Vernunfttätigkeit in ihren verschiedenen Vollzügen erscheint. Ratzinger zeigt dies im Hinblick auf die naturwissenschaftlich-technische, die moralische und die ästhetische Vernunft des Menschen, welche sich seines Erachtens auf je eigene Weise auf den Logos des Schöpfers als ihrer impliziten Voraussetzung beziehen (Teil I, Kap. 13).

      Der implizite Bezug zum Logos Gottes als kosmischem Grundprinzip der Wirklichkeit ist für Ratzinger also der Einheitspunkt menschlicher Vernunft. Als Voraussetzung aller menschlichen Vernunfttätigkeit, als die die Vernunft Gottes von der menschlichen Vernunft erkannt werden kann, ist sie dieser immer schon analog. Damit ist der Offenbarungsglaube als Glaube an die personale Offenbarung des Logos Gottes nicht nur als der menschlichen Vernunft gemäßer Glaube, sondern als höchste Form menschlicher Vernunft verstanden, weil diese im Glauben in personaler Weise Anteil an der Vernunft Gottes erlangt. Historisch sieht Ratzinger diese Einheit von Vernunftbezug und Glaubensbezug zum Logos Gottes in der Synthese von griechischer Logos-Philosophie und christlich-jüdischem Offenbarungsglauben vollzogen. Diese Bestimmmung des Verhältnisses von Glaube und Vernunft hat Konsequenzen sowohl für sein Kirchenverständnis als auch für sein Verständnis des interreligiösen Dialogs (Teil I, Kap. 4).

      Wo die Vernunft des Menschen ihren Bezug zum Logos Gottes leugnet, verschließt sie sich Ratzinger zufolge in ihrer Autonomie und verfehlt damit ihr eigentliches Wesen. Ein solches Abschneiden der Vernunft vom Logos des Schöpfers sieht Ratzinger sowohl im philosophischen als auch im naturwissenschaftlich-technischen Denken der Neuzeit gegeben. Diese Loslösung von der Anerkennung des Logos Gottes als Einheitspunkt menschlicher Vernunft macht die Begründung moralischer Vernunft und des universalen Wahrheitsanspruchs christlichen Glaubens in den Augen Ratzingers unmöglich und führt damit zu einem unheilbaren Werterelativismus und zur ‚Abschaffung des Menschen‘ als geistiger und auf seinen Schöpfer bezogener Kreatur. Ratzinger fordert deshalb eine erneute Orientierung der menschlichen Vernunft am Logos Gottes als ihrem Ursprung (Teil I, Kap. 5).

      Ratzingers Bestimmung des Vernunftbegriffs wird in dieser Arbeit zunächst aus philosophischer Sicht kritisch untersucht. Zu diesem Zweck wird die philosophiegeschichtliche Entwicklung des Vernunftbegriffs betrachtet und Ratzingers Vernunftbegriff in diese Entwicklung eingeordnet. Dabei zeigt sich, dass sich Ratzingers Vernunftbegriff stark am spekulativen Vernunftkonzept der griechischen Philosophie orientiert, welche sich in ihrer Wahrheitserkenntnis auf die Strukturen einer ihr vorgegebenen kosmischen Vernunft bezogen wusste. Dieses Vernunftkonzept ist