Die katholische Studentengemeinde (KSG) in Halle bildete das personelle und geistige Umfeld, aus dem sich ein wesentlicher Teil der späteren Mitglieder des Aktionskreises rekrutierte.127 Durch ihre Entwicklung, Struktur und Arbeit war die Hallenser KSG geradezu prädestiniert, demokratieorientierte und kirchenkritische Gruppen wie etwa den „Korrespondenz“ – Kreis und später den Aktionskreis Halle hervorzubringen. Die ostdeutschen Hochschul- und Studentengemeinden sind bereits verschiedentlich untersucht worden.128 In den 60er und 70er Jahren zeigte sich ein enormes Potential reformorientierter Strömungen innerhalb der katholischen Studierendenschaft.129 Dabei lassen sich drei ausschlaggebende Tendenzen beobachten: ein Bildungs-, Demokratisierungsund Oppositionstrend.130 Diese weit verbreiteten Strömungen trafen in Halle auf begünstigende personelle und institutionelle Rahmenbedingungen.
In der Thomas-Morus-Studentengemeinde in Halle war die Bildungsarbeit besonders stark ausgeprägt.131 Aufgrund der ideologischen Prägung der geisteswissenschaftlichen und pädagogischen Studiengänge an staatlichen Universitäten hatte sich die Mehrheit der christlichen Studierenden in naturwissenschaftlich-technische Studiengänge immatrikuliert.132 Dem Defizit an qualifizierter geschichtlicher, ästhetischer und geistlicher Bildung begegnete man durch wöchentlich stattfindende Vortrags- und Veranstaltungsabende in der KSG, an denen bis zu 160 Studentinnen und Studenten teilnahmen.133 Durch persönliche Verbindungen und „verwandtschaftliche“ Kontakte zu den katholischen Hochschulgemeinden in Mainz und Köln wurden die Hallenser Studenten kontinuierlich mit westdeutscher und internationaler Literatur versorgt.134 Schwerpunkte ergaben sich durch die Vorliebe des Kölner Studentenpfarrers auf den Gebieten der Kunst- und Kirchengeschichte.135 Neben den wöchentlichen Veranstaltungen widmete man sich in regelmäßig tagenden Arbeitskreisen den Themen Marxismus, Ostkirche, Sakrament der Ehe, deutsch-polnische und russische Geschichte.136 Bei jährlich stattfindenden Studienwochen wurden unter anderem die Themen: Laie und Kirche (1954); christlich-marxistisches Menschenbild (1957) sowie Autorität und Freiheit (1958) eingehend zwischen externen Referenten und den Studierenden diskutiert.137 Im umfangreichen Kultur- und Theaterprogramm, das von den Studierenden selbst vorbereitet und aufgeführt wurde, fand sich neben klassischem Theater auch die Lesung des nicht unumstrittenen Werkes Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter.“138 Insgesamt betrachtet, wirkte die Einheit aus einem breit angelegten Bildungsprogramm und der sich wöchentlich treffenden Gemeinschaft für viele Studenten identitätsstiftend.139 Die KSG wurde so zu einem Ort intellektueller Auseinandersetzung und kameradschaftlicher Verbundenheit. Gezwungen durch die defizitären Strukturen der universitären Allgemeinbildung, wurden die christlichen Hochschulgemeinden zu Orten der außeruniversitären Bildung. Die Auseinandersetzung mit historischen, künstlerischen, theologischen und philosophischen Fragen fand innerhalb der Studentengemeinden großen Zuspruch. Dass sich die Arbeit und Struktur der KSG Halle derart breit gestaltete und regen Zuspruch erfuhr, dürfte nicht unwesentlich in der charismatischen Figur des damaligen Studentenpfarrers begründet gewesen sein. Adolf Brockhoff140 war von 1953 bis 1967 Studentenpfarrer und zugleich Leiter des Sprachenkurses in Halle.141 Pfarrer Brockhoff galt als „ ‚enfant terrible’, knorriger Mann, ‚westfälischer Dickschädel’, profund, tief gläubig, dabei auch kirchenkritisch, charismatisch, mutig, provozierend, kumpelhaft und auch gebildet. Er verstand es, Visionen zu entwickeln; er prägte ganze Studentengenerationen durch seinen Intellekt und seine Persönlichkeit. Er konnte die Studenten zusammenholen und -halten. Er öffnete ihnen im geistigen Bereich Horizonte, die über die Dinge hinausgingen, nicht nur im theologischen, sondern auch im gesellschaftspolitischen Raum.“142 Brockhoffs theologische Einstellungen und seine tief gläubige und zugleich kirchenkritische Art bestimmten den Kreis der Studenten und ihre Auffassung von Glaube und Kirche nachhaltig.
1.2.2„Korrespondenz“- Kreis
Ein weiterer wichtiger Wegbereiter für die spätere Gründung des AKH war die sogenannte „Korrespondenz.“143 Diese Gruppe wurde in der zeitgeschichtlichen Diskussion um postkonziliare Aufbruchsbewegungen in der DDR bislang kaum gewürdigt.144 Dies verwundert angesichts ihrer brisanten und provokativen Forderungen im Hinblick auf eine theologisch-politische Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit dem SED-Staat.145
Auf Anregung des Hallenser Studentenpfarrers Adolf Brockhoff bemühten sich seit Anfang des Jahres 1966 etwa zehn Akademiker und Studenten durch Briefsendungen um Möglichkeiten der innerkirchlichen Meinungsbildung.146 Die Korrespondenz-Gruppe, der Name ergab sich aus der angestrebten Aufgabe, war keine geschlossene Gemeinschaft und besaß aufgrund der Vielfalt der Fachrichtungen ihrer Mitglieder ein durchaus heterogenes Meinungsbild.147 Allen gemeinsam war das Bemühen, angesichts einer stagnierenden Situation nach dem Aufbruch des Konzils und der zunehmenden „Ratlosigkeit und Resignation“148 über das Verhältnis zum sozialistischen Staat, Veränderungen in der kirchlichen Situationsbewertung in Gang zu setzen.
Geprägt vom Modell eines innerkirchlichen Pluralismus und der konziliaren Erneuerung verpflichtet, verstand sich die Gruppe als „eine Gemeinde neuen Typs […die] unmittelbar als Sauerteig eines neuen Kirchenbewusstseins wirken“149 wollte. Ihre Intention bestand vor allem darin, „eine Gemeinschaft von kritisch Gesinnten zu stiften, die im offenen Dialog miteinander umgehen. Gemeinsam die Angst vor Repressalien des DDR Staates zu überwinden. Kritische Texte, vor allem zu Fragen des innerkirchlichen Dialoges zu verbreiten und zur Diskussion zu stellen.“150 Doch nicht nur das Versenden von Briefen sollte das Wirken der Korrespondenz bestimmen. Mit der „theoretischen Arbeit müsste in stärkerem Maße eine praktische Einflussnahme verbunden werden“151, zu der es aber letztlich nicht kam. Ihr Credo - „Brecht euren Acker von Grund auf um und sät nicht auf Dornen“ (Jeremias 4,3) - das alle Briefsendungen kennzeichnete, stand paradigmatisch für ihren Anspruch: Kritik zu üben und Anfrage an das kirchliche Selbstverständnis in einem sozialistischen Staat zu sein, um einen Bewusstseinswandel im offiziellen und privaten Verhältnis von Staat und Kirche zu implementieren. Die Korrespondenz kann daher als eine der ersten Gruppierungen im DDR-Katholizismus gelten, die sich für Formen innerkirchlicher Demokratisierung und für die Anerkennung des Sozialismus einsetzte.152
Durch mehr als zehn offene Briefe versuchten die zum Teil noch aktiven Mitglieder der Thomas-Morus-Studentengemeinde „ihre Meinung zu verschiedenen Fragen des kirchlichen Lebens, insbesondere zu Problemen des Christen und seiner Kirchen in der DDR, einer größeren Öffentlichkeit vorzutragen.“153 Ausdrücklich wurde in den Briefen um Rückantwort gebeten, um die „Korrespondenz“ zu einer Gesprächs- und Informationsplattform zu entwickeln.154 Dieser Versuch scheiterte an der zu geringen Zahl von schriftlichen Rückmeldungen auf die mit einer Auflage von bis zu 200 Exemplaren an einen weiten Kreis von Empfängern in Ost- und Westdeutschland verschickten Briefsendungen.155 Das mangelnde oder zögerliche Interesse dürfte sich aus verschiedenen Quellen gespeist haben. Dem vielfach konstatierbaren Informationsbedürfnis vieler Katholiken dürften das freimütige Auftreten der Gruppe mit Nennung von Namen und Adressen der jeweiligen Autoren sowie die Intention der Aussagen und die teils radikal formulierten Forderungen entgegengestanden haben. Der latente Verdacht kirchlicher Stellen, dass die „Korrespondenz“ mit staatlichen Stellen kooperiere, und die kirchenamtliche Kritik an den Aussagen des Kreises dürften zur mangelnden Rezeption nicht unwesentlich beigetragen haben.156 Auslöser für das Ende der „Korrespondenz“ war nach der Niederschlagung des Prager Frühlings ein Zerwürfnis über die Opportunität eines Beitrages zur Volksabstimmung über die DDR-Verfassung und das Bekenntnis eines Mitgliedes zu seiner Stasi-Mitarbeit.157 Da die Auffassungen der Korrespondenz-Gruppe der offiziellen Kirchenpolitik diametral widersprachen, zeichneten sich ihre Beiträge durch einen „den Verhältnissen entsprechend, relativ negativ-kritisch[en]“158 Ton aus, verfolgten aber nach eigenem Bekunden im Grunde eine „positive Absicht.“159 Trotz verschiedener Beziehungen zur „Berliner Konferenz“ und den Herausgebern der Zeitschrift „Begegnung“ war die „Korrespondenz“ insgesamt um Distanz zu diesen Organisationen bemüht.160 Die Frustration über die ausbleibende Resonanz dürfte die Auflösungserscheinungen