1. Kapitel
Einleitung und Begründung des Forschungsvorhabens
Die vorliegende Studie ist aus dem wissenschaftlichen Interesse des Autors entstanden, zu überprüfen, wie sich die Praxis der elementaren religiösen Bildung am Bayerischen Untermain darstellt. Hierbei sind zwei Perspektiven interesseleitend gewesen: Zum einen der regionale Bezug und zum anderen die aktuelle gesellschaftliche Bildungsdiskussion.
Der regionale Bezug ist deshalb von Bedeutung, weil in der Erkenntnis dessen, was ist, auch die Chance liegt für das, was in Zukunft sein wird. Der Autor der Studie ist seit vielen Jahren an der Fachakademie für Sozialpädagogik Aschaffenburg in der religionspädagogischen Ausbildung von Erzieherinnen tätig. Die Fachakademie sieht sich in ihrem Selbstverständnis als Kompetenzzentrum für frühe Bildung in der Region und insofern auch als Motor für Innovation. Die Ausrichtung möglicher Innovationen hat sich an den Realitäten der sozialpädagogischen Praxis zu orientieren, wenn sie denn eine Chance auf Umsetzung haben will.1 Insofern ist eine gute Kenntnis der religionspädagogischen Praxis in den Einrichtungen die Voraussetzung für eine verbesserte Ausbildung und in der Folge auch für Innovationen in der Praxis. Die Studie gibt einen Einblick in das, was an religiöser Bildung und Erziehung am Bayerischen Untermain realisiert wird. Sie ist quantitativ orientiert und – so viel sei schon zu Beginn vorweggenommen – eine Einladung zur qualitativen Vertiefung. Diese Einschränkung gilt es deutlich festzuhalten. Immer wieder laden die Ergebnisse ein, genauer nachzufragen. Im Rahmen einer Vollzeitstelle und den Aufgaben eines stellvertretenden Direktors, die der Autor auch noch zu bewältigen hat, zeigten sich aber deutliche Grenzen des Forschungsvolumens.
Dieses Interesse – für die Region einen Forschungsbeitrag zu liefern – wird aber in besonderer Weise durch die Debatte über die Bildung in der frühen Kindheit gespeist. Ausgelöst durch den Pisa-Schock und die entsprechende Wiederentdeckung der frühkindlichen Entwicklung in der Forschung,2 hat sich eine gewisse Fixierung der frühkindlichen Bildung entwickelt. Ein Anliegen des Autors ist es, dieser einseitigen Fokussierung der Bildungsinhalte auf verwertbares Wissen aus dem Bereich der Naturwissenschaften und einer etablierten Förderkultur, die primär zum Ziel hat, den schulischen Erfolg der Kinder zu gewährleisten, entgegen zu wirken. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es ist nicht das Anliegen der vorliegenden Arbeit, die Diskussion über frühkindliche Bildung und entsprechende kindgerechte Förderung zu diskreditieren.3 Sie will im Gegenteil einen Beitrag gerade zu dieser Debatte beitragen, indem sie deutlich macht: Die Diskussion um Bildung und Erziehung muss nach Pisa ergänzt werden um die Frage nach der Fähigkeit unserer Kinder, die „Texte des Lebens als Ganzes“ zu lesen. Was ist damit gemeint? Zum Wesen des Menschen gehört es unabdingbar, dass er Fragen nach dem woher und wohin stellt. Die Sehnsucht nach einer umfassenden Gerechtigkeit und einem umfassenden Frieden von Mensch und Welt ist eben Ausdruck einer Dimension im Menschen, die ihn immer wieder die Welt, wie sie vordergründig ist, übersteigen lässt. Diese „Transzendenzfähigkeit“4 führt den Menschen zu einer Ahnung, dass die Welt eben nicht fertig ist. Wenn wir Kinder nicht zur Ahnungslosigkeit erziehen wollen, sondern ihnen etwas von unserer Weisheit für ihren eigenen Weg mitgeben wollen, dann hat Bildung immer auch die Aufgabe, Kinder selbst die Fragen nach dem Woher, Warum und Wohin stellen zu lassen und sie hierbei zu begleiten. Es geht – um das Bild vom „Text des Lebens als Ganzes“ noch einmal aufzugreifen – um eine Lese- und Deutungskompetenz für die Fragen, die nicht im Bereich des Mess-, Zähl- und Wiegbaren liegen. Und diese Fragen tauchen im „Kon-Text“ des Lebens immer wieder auf. Jörg Zink geht dabei sogar so weit, dass er sagt: „Überall, wo es im Leben wichtig wird, hören die Beweise auf. Wenn euch jemand liebt, müsst ihr es ihm glauben. Es gibt keine Liebesbeweise … Aber glauben heißt nicht, seinen Verstand an der Garderobe abzugeben. Es heißt vertrauen, auch wo man nichts sieht (…).“5 Diese Dimension wach zu halten ist eine wesentliche Aufgabe religiöser Bildung. Es geht um ein Nach – Denken von Sinnentwürfen und ein Weiter – Denken für eine gesicherte Zukunft unserer Gesellschaft. Insofern ist religiöse Bildung und Erziehung ein Beitrag zur nachhaltigen Sicherung einer aufgeklärten Gesellschaft. In Anbetracht der religiös geprägten Konflikte in unserer Welt und vor dem Hintergrund der Reaktorkatastrophe von „Fukushima“ erscheinen die Gedanken von J. Röser zukunftweisend: „Über die Zukunft dieser Zivilisation und das Schicksal der nachfolgenden Generationen wird im Bereich des Religiösen wesentlich mitentschieden. Nachdenkliche Eltern wollen solche Entscheidungen nicht einfach passiv anderen überlassen, sondern sie aktiv durch Wort und Tat mitgestalten. Sie wollen gemeinsam mit ihren Kindern nicht nur materiell gesichert, sondern auch geistig kreativ und spirituell sinnvoll leben. Eine offene Gesellschaft, die offen bleiben möchte, muss sich dem kulturellen Wettbewerb um Moral, Werte und Glauben öffnen, auch in religiöser Hinsicht. Wie sind wir darauf vorbereitet? Wie bereiten wir uns darauf vor?“6
Diese Fragen zielen auf die religiöse Bildung im Allgemeinen und es ist klar, dass diese nicht allein von den Erzieherinnen und Erziehern im Feld elementarer religiöser Bildung beantwortet werden können. Die Bedeutung der frühen Bildung im Allgemeinen verweist aber auch auf den Stellenwert der frühen religiösen Bildung und Erziehung und auf die Verantwortung aller Akteure in diesem Feld.
Wenn hier von religiöser Bildung gesprochen wird, gilt es zu beachten, dass die Begriffe religiöse Bildung und kirchliche Erziehung im Alltagsgebrauch häufig synonym verwendet werden. Dies hängt sicherlich mit der christlich geprägten Kultur unserer Gesellschaft zusammen. In der Studie wird jedoch deutlich, dass diese Begriffe differenziert verwendet werden sollten. Die bundesdeutsche Gesellschaft verändert sich im Zeitalter der Globalisierung in zunehmenden Maß in Richtung Pluralisierung von Lebenslagen und Haltungen.7 Diese haben auch Auswirkung auf die religiöse Ausrichtung eines zunehmend individualisierten Lebensstils. Die Vorgaben kirchlich-institutionalisierter Religion sind von daher im Kontext dieses Individualisierungsprozesses von einer individuellen Perspektive zu unterscheiden. Das Individuum „bastelt“ sich heute vielmehr auch seine eigene Religiosität.8 Hierin liegt Chance und Risiko zugleich. Das Sprichwort – „Früher mussten wir spuren. Heute fehlen