Die zwei Brüder setzen sich ernsthaft mit den Inhalten ihres Glaubens auseinander. Solch exemplarisches Verhalten scheint heute unter Christenmenschen eher selten zu sein. Begründet wird diese Vernachlässigung der Glaubenslehre meist mit dem Hinweis, dass wir ja alle zum gleichen Gott beten. Praktisch bedeutet das, dass sich die Ökumene irgendwann ganz von selber totläuft, weil die Unterschiede zwischen den Konfessionen nur noch für eine Minderheit von Interesse sind.
WENN RECHTGLÄUBIGE IRREN UND IRRENDE RECHT BEHALTEN
Mehr als drei Jahrzehnte habe ich in Rom verbracht. Während dieser Zeit habe ich die römische Basilika Sant’Agostino Dutzende Male besucht. Und dort immer wieder auch die von Andrea Contucci, genannt Sansovino, um 1510 geschaffene Anna Selbdritt betrachtet, die zu den berühmtesten Skulpturen dieses Künstlers gehört. Die Madonna hält das Jesuskind auf ihrem Schoß, während Anna den rechten Arm um Marias Schultern legt und lächelnd auf die beiden herabblickt. Ihr Lächeln ist geheimnisvoll und wissend – oder hintergründig, und zwar auf eine Art, die mich seit jeher irritierte. Inzwischen weiß ich weshalb. Erst anlässlich meines letzten Romaufenthalts ist mir nämlich aufgefallen, dass die alte Anna mit ihren Füßen auf ein dickes Buch tritt. Dieses Buch symbolisiert das Alte Testament, das ihrer Ansicht zufolge (oder vielmehr nach Ansicht des Künstlers) seit der Ankunft Jesu überholt und damit überflüssig geworden ist. Offenbar hat sich Sansovino keine Rechenschaft darüber gegeben, dass Jesus Jude und dass die erstbundlichen Schriften seine Bibel waren. Auch seinen jesusgläubigen Auftraggebern scheint entgangen zu sein, dass diese Darstellung der Anna Selbdritt eine Theorie ins Bild umsetzt, welche die Kirche im zweiten Jahrhundert als höchst verderbliche Ketzerei betrachtete. Damals nämlich verwarf ein gewisser Marcion das ganze Erste Testament in Bausch und Bogen, weil es angeblich einen bösartigen Weltenschöpfer propagiert. Diese ablehnende Haltung schienen, wenn auch aus anderen Gründen, die Glaubensstreiter, welche die besagte Skulptur orderten, ebenfalls zu teilen. Wozu, werden sie sich gesagt haben, benötigen wir noch die Lehren eines Mose und die Mahnrufe der Propheten, seit Jesus als Lehrer und Meister und Messias in Erscheinung getreten ist!? Dabei übersahen sie, dass viele neutestamentliche Aussagen ohne Kenntnis der erstbundlichen Schriften völlig unverständlich bleiben. Und dass das Erste Testament spirituelle Reichtümer enthält, die wir so im Neuen einfach nicht vorfinden – denken wir bloß an den im Psalterium enthaltenen Gebetsschatz oder an die pralle Lebensfreude und Liebeslust, wie sie im Hohelied zum Ausdruck kommt. Statt der Inschrift, die am Fuß der Statuengruppe an ihren Schöpfer erinnert, müsste dort eigentlich eine Warnung stehen mit dem Hinweis, dass auch Menschen mit den frömmsten Absichten sich gelegentlich auf Irrwege begeben.
(Man könnte freilich auch eine ganz andere Interpretation von Sansovinos Anna Selbdritt wagen. Nämlich so: Anna tritt das Erste Testament nicht nieder, sie fußt vielmehr darauf. Gerade deshalb kann sie so hintersinnig lächeln. Vielleicht weiß das Bild – List des Heiligen Geistes! – ja mehr, als seine Besteller oder selbst sein Schöpfer wussten und als sich uns auf den ersten Blick darstellt . . .)
Auch in der römischen Kirche Il Gesù, am Grab des heiligen Ignatius, bin ich auf Bücher gestoßen, die ich bei früheren Besuchen übersehen hatte. Die Skulpturengruppe zur Rechten des Grabaltars zeigt die Fides (d. h. den Glauben) in Form einer allegorischen Frauengestalt mit erhobener Rechten und einem Kreuz in der anderen Hand. Mit dem linken Fuß tritt sie auf zwei Männer mit hassverzerrten Gesichtern ein. Die beiden versinnbildlichen die Häretiker. Tatsächlich presst einer von ihnen zwei Bücher an sich, auf deren Rücken bei genauem Hinsehen die Namen der Verfasser, nämlich Martin Luther und Johannes Calvin, zu erkennen sind. Aber hatten die beiden Reformatoren wirklich immer mit ihrem Urteil in all den Dingen unrecht, gegen die sie anpredigten und polemisierten?
Mein letzter Romaufenthalt hat mir viele freudige Überraschungen beschert. Und mich darüber hinaus in einer Erkenntnis bestärkt: Die für den rechten Glauben kämpfen, sind längst nicht immer gegen Irrtümer gefeit, und nicht selten sind es die aus kirchenamtlicher Sicht Irrenden, die das Richtige vertreten.
KÖNNEN WIR GOTT VERZEIHEN?
In einem Kunstführer lese ich, dass sich in der evangelisch-reformierten Ottilienkirche in Tüllingen, im Stadtteil Lörrach, ein Fresko aus dem Jahr 1447 befindet, welches Maria Magdalena, Maria-Salome und Maria Kleopas mit ihren Salbungsgefäßen am Grab Jesu zeigt. Von den beiden Letzteren berichtet die Legende, dass sie der zweiten und dritten Ehe der heiligen Anna entstammten (aus deren erster Ehe Jesu Mutter hervorging). Dass in Tüllingen, anders als üblich, anstelle der Jungfrau aus Nazaret die Magdalenerin den drei Marien zugezählt wird, verwundert mich schon; um dieses Fresko zu sehen und zu fotografieren, wäre ich meilenweit gefahren. Aber von Basel bis zu dem im Markgräflerland gelegenen Tüllingen benötigt man mit dem Auto ganze zwanzig Minuten.
Warum der Freskenmaler die Mutter Jesu durch die Magdalenerin ersetzt hat, spielt hier keine Rolle. Weit nachhaltiger als diese kunsthistorische Kuriosität beschäftigt mich etwas ganz anderes. In der besagten Ottilienkirche liegt ein Buch auf, in das alle Besuchenden nicht nur ihre Eindrücke und Bitten, sondern auch ihre ganz persönlichen Anliegen und Dankesbezeugungen hineinschreiben können. Beim Blättern stoße ich auf einen höchst ungewöhnlichen Eintrag: »Gott, ich vergebe dir alles, was du mir angetan hast.«
Gott, ich vergebe dir! Steht eine solche Äußerung nicht dem Regelwerk jeder Religion diametral entgegen? Hat man uns denn nicht seit Kindheitstagen eingetrichtert, dass wir immer und lebenslang allen Grund haben, Gott um Verzeihung zu bitten für unsere Sünden? Ihn darum anzugehen, dass er Nachsicht üben möge angesichts unserer Verfehlungen? Ihm zu danken, für das Gute, das wir durch ihn erfahren durften? Und hier wirft sich eine Schreiberin zur Richterin auf über GOTT! Und erkühnt sich gar, Gott zu vergeben, was er ihr angetan!
Vor fünf Jahrzehnten hätte ich eine solche Äußerung vermutlich als zynisch oder gar als gotteslästerlich empfunden. Inzwischen aber kenne ich mich ein klein wenig aus im Buch der Bücher. Nicht nur in unzähligen Gesprächen mit schmerzgeplagten und leiderprobten Menschen, sondern auch durch die Lektüre der Bibel habe ich gelernt, dass es Situationen gibt, die selbst Gottgläubige überfordern.
Verflucht nicht Ijob, der von Gott über die Maßen Geprüfte, den Tag seiner Geburt? »Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, die Nacht, die sprach: Ein Mann ist empfangen« (Ijob 3,3). Eine ähnliche Klage ertönt aus dem Mund des Propheten Jeremia: »Weh mir, Mutter, dass du mich geboren hast, einen Mann, der [wegen der Sache Gottes] mit aller Welt in Zank und Streit liegt« (Jeremia 15,10).
Angesichts solcher Reden, die sich letztlich gegen den Schöpfergott selber richten, müssen alle gut gemeinten und religiös verbrämten Trostworte wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Was bleibt, ist der Eindruck, vom Schicksal, vom Leben oder von Gott ums Lebensglück betrogen worden zu sein.
Nichtgläubige werden sich über solche Situationen mit der Bemerkung hinwegzutrösten versuchen: Sometimes life’s not fair. Und Gottgläubige? Sollen sie sich einfach in ihr tristes Schicksal fügen und darin womöglich einen Plan der göttlichen Vorsehung erkennen?
Was die unbekannte Frau in der Tüllinger Kirche ins Buch schrieb, scheint mir ehrlich – also kein Ausdruck von Zynismus, sondern ein Zeichen von Glauben. Sie fühlt sich nicht vom Leben oder vom Schicksal, sondern von Gott selber ungerecht behandelt. Und sie nimmt diesen Gott, an den sie glaubt und von dem sie meint, dass er sie fallen ließ, ernst. Und schreibt ganz einfach, was sie empfindet: »Gott, ich vergebe dir!«
Wäre