Monarchie, Ideologie und Tourismus
Ein Jahr vor seinem Tell dichtete Friedrich Schiller in einem Drama folgende Verse: «Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte. Die Welt ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.» Diese Losung sollte ein Trost sein für bürgerliche Untertanen, die nach politischer Partizipation in den Fürstenstaaten des 18. Jahrhunderts strebten und einen utopischen Ort im Gebirge brauchen konnten.1 Wenig später wurde die aufklärerische Gegenwelt des Gebirges aber zunehmend von anderen Kräften in Anspruch genommen, welche die Bergbevölkerung nicht wegen ihrer vermuteten Freiheitsliebe schätzten, sondern weil man sie für besonders treu und ergeben hielt. Erzherzog Johann von Österreich, ein jüngerer Bruder von Kaiser Franz I., fand 1822 in den Bergen «Kraft, Treue, Einfalt, ein noch unverdorbenes Geschlecht». Sein Ziel war es, im Bund mit den Bergbewohnern dem Schwindel der Zeit entgegenzutreten und «während alles sich krampfhaft bewegt, ruhig als Muster dessen zu stehen, wie es überall sein sollte». Mit dem Leben auf einem steirischen Gebirgshof, seiner Heirat mit einer Postmeisterstochter und seinen alpinistischen Initiativen wurde der Erzherzog zur perfekten Verkörperung der romantischen Alpensehnsucht. Er führte auch nicht wenige seiner kaiserlichen Verwandten persönlich in die Bergwelt – ein Indiz für die zunehmende Aufmerksamkeit der Monarchie für die Alpen.2
Dies ist nur eine der zahlreichen Geschichten aus den Anfängen des monarchischen Alpeninteresses. Man könnte etwa auf die frühen Reisen anderer gekrönter Häupter hinweisen. Sie führten in den 1810er-Jahren zwei Kaiserinnen der Franzosen, eine englische Königin und einen preussischen König nach Chamonix (das man oft zur Schweiz zählte) und ins Berner Oberland. An den Höfen in Paris, London und Berlin wusste man natürlich seit Langem Bescheid über die Besonderheiten dieser Gebirgsregionen, doch erst jetzt machten sich nicht nur Adlige, sondern auch Regenten auf, um sie zu besichtigen.3 In jedem Fall spielten besondere Umstände und – wie man annehmen darf – allgemeine kulturelle Einflüsse eine Rolle. Beide sind nicht leicht zu ergründen. Wenn wir den Stellenwert der Monarchie im Alpenraum systematisch erfassen wollen, sollten wir auf jeweils zeitspezifische Weise die Präsenz der Dynasten, die politische Verfassung und Verfassungsdiskussion sowie die Raumwahrnehmung betrachten. In diesem Buch thematisieren wir vor allem den ersten und den dritten Punkt.
Präsenz der Dynasten: Im Alpenraum gab es keine grossen königlichen Residenzstädte. Grenoble, die bevölkerungsreichste Stadt, war bis zur Revolution Sitz eines königlichen Gerichts, aber nicht eines Herrschers. Innsbruck hatte eine Zeit lang als Hauptort einer habsburgischen Linie gedient, doch in unserer Untersuchungsperiode war das Vergangenheit. Die Dynasten, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert in die Alpen reisten, kamen von aussen. Unsere Studie konzentriert sich vor allem auf das britische und das italienische Königshaus sowie auf die habsburgische Kaiserfamilie. Dabei interessieren nicht zuletzt die Beziehungen zwischen Monarchie und Gesellschaft, und zwar in beide Richtungen: Wie weit folgten die Monarchen mit ihren neuen Alpenreisen allgemeinen Entwicklungen der europäischen Kultur? Und wie weit wirkten sich ihr Verhalten und ihr Vorbild umgekehrt auf die allgemeine Entwicklung des Tourismus aus?
Raumwahrnehmung: Hier geht es um den Wandel von republikanischen zu royalistischen Alpenbildern, um dessen räumliche Schwerpunkte und Ausmasse. Zur Klärung dieser Fragen muss man nicht nur die touristische und technische Erschliessung von Berggebieten und die dabei entstehende materielle Kultur (Hotelpaläste, Schlossbauten und anderes) berücksichtigen. Die politisch-ideologische Frage ist auch vor dem Hintergrund der Nationalstaatenbildung zu sehen, die den Alpenraum zu einer grossen, militärisch bewachten und befestigten Grenzregion machte. Viele Gipfel erhielten durch das aufkommende vereinsmässig organisierte Bergsteigen und durch diese nationalen und nationalistischen Bestrebungen eine neue Bedeutung. Trotz ihrer Erschliessung verkörperten die Alpen aber weiterhin die Natur und eigneten sich damit als Projektionsfläche für allgemeine Vorstellungen über Tugend und Untugend in den unsicheren, schnelllebigen Zeiten des industriellen Fortschritts und der europäischen Expansion.
Das erste Kapitel dieses Buchs führt in die Welt und die Gedanken der Aufklärer, die im 18. Jahrhundert zunächst in die Schweizer Alpen reisten und dort ein «freyes und glückseliges Volk» antreffen wollten. An den Landsgemeinden besuchten sie politische Versammlungen, die einige von ihnen an antike republikanische Ideale erinnerten. Der Kult um den helvetischen Helden Wilhelm Tell nahm ganz neue Formen an, wurde aber im Alpenraum zwei, drei Generationen später vom beginnenden Kult um den Tiroler Helden Andreas Hofer konkurrenziert. Das zweite Kapitel wechselt die Perspektive und blickt den Monarchen bei ihrer Reisetätigkeit, insbesondere ihren Alpenreisen über die Schultern. Queen Victoria begab sich zum Beispiel 1868 für mehrere Wochen in die Zentralschweiz und absolvierte ein dichtes Programm an touristischen Besichtigungen. In Italien herrschte Vittorio Emanuele II., König von Sardinien-Piemont, über eigene Berglandschaften, zum Beispiel das Aostatal. Dort schoss er 1850 seinen ersten Steinbock und wurde später zum alpinen «Jägerkönig». Im dritten Kapitel begeben wir uns in das weitläufige Alpengebiet des Habsburgerreichs, das nicht nur das heutige Österreich umfasste, sondern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die ganze Alpensüdseite von der Lombardei bis und mit Slowenien. 1857 verlegte Kaiser Franz Joseph seine Sommerresidenz nach Ischl im Salzkammergut. Er und weitere Mitglieder der kaiserlichen Familie kannten den Ort von vielen früheren Aufenthalten. Ihre Anwesenheit prägte die lokale Entwicklung: Auch die Adligen, und wer sonst in der Monarchie etwas auf sich hielt, wollten bald da sein. Das vierte Kapitel kehrt schliesslich zum allgemeinen Alpenbild zurück und befasst sich mit der titelgebenden Frage nach den politischen und kulturellen Vorstellungen in der Belle Époque. In welcher Weise waren die Berge in jener Zeit vor dem Ersten Weltkrieg «majestätisch», und woran kann man das erkennen?
Das Buch beruht auf Quellen aus britischen, italienischen, österreichischen und schweizerischen Archiven und stützt sich auf die einschlägige Fachliteratur. So wie wir das Thema behandeln, ist es allerdings in der historischen Literatur bisher noch nicht dargestellt worden. Neu ist nicht das Aufgreifen einzelner Episoden, sondern deren Verbindung zu einer übergreifenden Fragestellung und ihre Behandlung in transnationaler Perspektive. In allen drei historiografischen Traditionen, die im Buch angesprochen werden (Monarchie-, Alpen- und Tourismusforschung), dominierten bis in die Gegenwart nationale und regionale Untersuchungen. Erst in jüngster Zeit richten Forschende den Blick vermehrt auf die multinationale und europäische Bühne.4 Dies kann die Ergebnisse nicht unwesentlich verändern. So ist man in der Schweiz gewohnt, den philhelvetischen Stimmungsumschwung, der das Image des Landes in der Aufklärungszeit in unerwarteter Weise erneuerte und aufhellte, hervorzuheben und den späteren Wandel zu vernachlässigen. Es ist, als ob man den sensationellen Moment des ersten Kontakts auskosten wollte und nicht wirklich danach fragen möchte, inwiefern dieser in eine stabile Beziehung mündete. Wissenschaftlich gesehen sollten wir uns nicht von solchen Momenten hinreissen lassen. Es kann sich herausstellen, dass die späteren nicht weniger interessant waren – nur anders.
Autorschaft und Dank
Das Buch wurde von zwei Autorinnen und einem Autor geschrieben. Die Idee dazu stammt von früheren Erfahrungen mit der Geschichte des Alpenraums. Ausgeführt wurde sie in einem Projekt, das der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in den Jahren 2014 bis 2017 unterstützte.