Die Logik des Museums. Roger Fayet. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roger Fayet
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199075
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ihre sorgfältige Inventarisierung, ihre akribische Erforschung und Dokumentierung und vor allem ihre effekt volle Zurschaustellung auf Sockeln und in Vitrinen, hinter Respekt gebietenden Schranken, in alarmgesicherten, klimatisierten und lichtgeschützten Räumen – und im Gegensatz dazu die Entsorgung von Abfallobjekten, ihre Zertrümmerung und Zermanschung, ihre Entfernung aus der menschlichen Wahrnehmung durch Verbringung in Müllhalden und Sonderdeponien, ihre Vernichtung durch Verrottung oder Verbrennung, ihre Auflösung und Entdifferenzierung im Recyclingprozess. Das Museum und die Mülldeponie bilden bezüglich des normativen Umgangs mit den Dingen die modernen Gegenorte an sich.

      Dennoch schliesst die Grenze zwischen Museum und Abfall nicht vollkommen dicht: Es ist eine abfalltheoretisch triviale Feststellung, dass der Wert der Dinge nicht aus ihnen selbst hervorgeht, sondern dass es eine Bewertungsinstanz braucht oder, wie Theodor Bardmann formuliert, einen «Beobachter», der das Beobachtete beurteilt: «Von Abfällen kann man nur reden, wenn eine Beobachtungsreferenz angegeben werden kann: Wer bzw. was bezeichnet etwas als Abfall?»1 Dasselbe gilt in gleichem Mass natürlich auch für Wertobjekte. Dementsprechend kann sich die Bewertung von Dingen ändern, wenn andere Instanzen auf den Plan treten und sich Geltung verschaffen oder wenn sich der Beobachter eines anderen, vielleicht Besseren besinnt. So kann es vorkommen, dass Abfälle in den Rang von Museumsobjekten aufsteigen, während umgekehrt Dinge, die sich seit vielen Jahren in der Sammlung eines Museums befinden, eines Tages zu Abfall werden. Hier soll es um die Aufwertung von Abfall zum Museumsob jekt gehen, während seine (erneute) Entwertung zu Abfall im Beitrag Jenseits von Nimmerland zur Sprache kommt.

      Rettungsanstalt für kulturelle Relikte

      Hermann Lübbes These vom Museum als Aufbewahrungsort für fortschrittsbedingt Veraltetes beantwortet die Frage, warum es zur Aufnahme von Abfall oder «Beinahe-Abfall» in die Wertsphäre des Museums kommt, wie folgt:2 Durch die Fortschrittsdynamik der modernen Zivilisationen werden laufend Bestände ausgeschieden, die es in irgendeiner Weise zu behandeln gilt. «Erst im Fortschritt fällt Veraltetes an und gewinnt komplementär zur Dynamik des Fortschritts an Aufdringlichkeit»,3 und erst im Fortschritt stellt sich das Problem der Entsorgung von Relikten früherer Evolutionsstufen. Sollen diese Überbleibsel vor dem endgültigen Verschwinden bewahrt werden, bleibt nur ihre Überführung in den Status von Antiquitäten oder – wirkungsvoller, da mit Aussicht auf dauerhafte Erhaltung verbunden – ihre Musealisierung. «Das Museum ist zunächst einmal eine Rettungsanstalt kultureller Reste aus Zerstörungsprozessen, denen irreversibel ausgesetzt ist, was als im aktuellen Reproduktionsprozess funktionslos durch die kulturelle Evolution ausseligiert [sic!] worden ist.»4 Der Gewinn, der sich daraus ergibt, dass die Relikte der obsolet gewordenen Praktiken nicht entsorgt, sondern für Gegenwart und Zukunft konserviert werden, besteht nach Lübbe darin, dass dem Schwund an kultureller Vertrautheit, den die fortschrittsbedingte Veränderungsdichte als «Nebenwirkung» mit sich bringt, auf diese Weise kompensatorisch entgegengewirkt werden kann. In immer schneller sich ändernden Umwelten erbringt das Museum mit der Deponierung von vertrauten Elementen – und vor allem mit ihrer sinnhaltigen Exponierung – wenigstens in Ausschnitten Angebote zur Erfahrung von Kontinuität. «Die bündelnde Formel für diese Struktur lautet: Durch die progressive Musealisierung kompensieren wir die belastenden Erfahrungen eines änderungstempobedingten kulturellen Vertrautheitsschwundes.»5 Dieser Logik folgend übernimmt das Museum die Funktion, den in ihrem Empfinden kultureller Zugehörigkeit herausgeforderten Subjekten der Moderne Identitätserfahrungen und Integriertheitserlebnisse anzubieten. Boris Groys weist überdies darauf hin, dass das Museum auch deshalb «die charakteristischste Institution der Moderne» ist, weil mit der fortschreitenden Aufklärung und Säkularisierung bisherige Identitätsgaranten wie die Religion an Verbindlichkeit eingebüsst haben und daher ein künstliches Gedächtnis in Form der Museen und Archive nötig wurde.6

      Die Stringenz dieses Erklärungsmusters ist frappierend und Beispiele zu seiner Verifizierung finden sich allenthalben. Stellvertretend sei hier angeführt: die Musealisierung von eliminierungsgefährdeten, da militärisch funktionslos gewordenen Zeughäusern und Festungsanlagen in der Schweiz während der Zeitspanne von 1990 bis 2006. Massnahmen zur Modernisierung der Schweizer Armee, etwa die Reformprojekte «Armee 95» und «Armee XXI», führten bei gleichzeitigem Spardruck zur Schliessung von Zeughäusern und Festungen, zur Abschaffung von Truppengattungen und zur drastischen Reduktion des Personenbestandes. Mit der Verwandlung von Gebäuden und Ausrüstungsgegenständen zu realem oder potenziellem Abfall korreliert nun statistisch gesehen ein deutlicher Anstieg von Museumseröffnungen in den Bereichen Militär- und Festungsgeschichte. Der vom Verband der Schweizer Museen herausgegebene Museumsführer aus dem Jahr 1969 verzeichnete gerade einmal sechs Militär- und Festungsmuseen; elf Jahre später, 1980, waren es noch immer erst sieben Museen. 1991, nach weiteren elf Jahren, lag die Zahl bei zwölf, doch in den folgenden fünf Jahren bis 1996 stieg die Anzahl sprunghaft auf 42, und in der Ausgabe von 2006 wurden 49 Museen aufgeführt. Während des rund fünfzehn Jahre dauernden Truppenabbaus wurden demnach 37 Museen neu in das Verzeichnis aufgenommen, was dem Dreifachen aller Jahre vor 1991 entspricht.7 Zu den neu gegründeten Museen gehörten, wie im Fall der Relikte der Industriekultur8 und der vorindustriellen Lebenswelt, auch zahlreiche in-situ-Erhaltungen.

      Fremdheitsschwund

      So viel zur empirischen Unterfütterung eines Museumsverständnisses, das in der Aufnahme von fortschrittsbedingt anfallenden Vergangenheitsrelikten und ihrer kompensatorischen Zurschaustellung die Grundleistungen des modernen Museums und die Ursachen für seine Erfolgsgeschichte sieht. Allerdings kollidiert dieses Deutungsmuster mit einem Befund, der sich dem Konzept des Ausgleichs von Vertrautheitsverlusten entgegenstellt: Viele museale Gegenstände entstammen einer zeitlich, geografisch oder gesellschaftlich dermassen entfernten Herkunft, dass sie zur Erzeugung von Vertrautheitserlebnissen gar nicht geeignet sind. Der gravierte Griff einer steinzeitlichen Speerschleuder, der ägyptische Sarkophag, der Trophäenkopf aus der präkolumbischen Nazca-Kultur, der barocke Prunkpokal einer Handwerkerzunft, die Vedute der Stadt Venedig aus dem 17. Jahrhundert, die Ngil-Maske der Fang aus Gabun, der Originalzahn eines spitzmausartigen Säugetiers aus der Triaszeit – die Erfahrungen, die sich in der Betrachtung solcher Objekte machen lassen, haben kaum etwas mit Vertrautheit zu tun, hingegen viel mit Fremdheit, mit Alterität. Sichten wir die Sammlungen der Museen im Hinblick auf Vertrautes und Fremdes, so finden wir weniges, das aus unserer eigenen Lebenswelt entstammt, vieles jedoch, das uns fremd und schwer verständlich erscheint. Gottfried Korff nennt das Museum «die Institution, die das kulturell Andere in sein Recht setzt, […] weil in ihm Dinge aus räumlich und zeitlich entfernten Welten gesammelt, aufbewahrt und dem Augensinn dargeboten werden»,9 und er formuliert zugespitzt: «Der, die, das Fremde ist Gegenstand des Museums.»10 Von Peter Sloterdijk wird es als «xenologische Institution»11 beschrieben, die den Besucher in einen «intelligenten Grenzverkehr mit dem Fremden»12 verwickle und so als «Schule des Befremdens»13 fungiere. Gerade Blockbuster-Ausstellungen wie die Azteken- Schau in London, Berlin und Bonn, Tutanchamun in Basel, Das MoMa in Berlin erreichten die Publikumsmassen nicht mit dem Versprechen, im Museum etwas Vertrautes, aber aussermuseal nicht mehr Vorhandenes wiederzufinden, sondern mit der Aussicht auf eine Begegnung mit dem noch Unbekannten.14

      Nehmen wir den empirischen Befund zur Kenntnis, dass das Museum mehr noch als der Speicher des Eigenen ein Aufbewahrungsort des Anderen ist, und bleiben wir vorerst einmal jenem Denkmodell treu, das Lübbes Museumstheorem als Grundannahme dient und besagt, dass kulturelle Tätigkeit geschieht, um zivilisatorische Defizite zu kompensieren (ein Paradigma, das auch von Lübbes Lehrer Joachim Ritter15 und von Odo Marquard16 vertreten wurde), dann müsste alternativ zur oben ausgeführten Deutung des Museums als identitätssichernde Bewahrungsanstalt für veraltungsbedingt Ausgeschiedenes Folgendes in Betracht gezogen werden: Die Funktion des Museums besteht vor allem darin, Möglichkeiten zur Begegnung mit dem Fremden anzubieten und damit jenen Schwund an Fremdheitserfahrungen zu kompensieren, der aus dem durchschlagenden Erfolg der wissenschaftlich-technischen Zivilisationsleistungen und ihrer globalen Verbreitung resultiert. Denn zur Moderne gehört nicht allein die kulturelle und ökonomische Praxis der permanenten Überbietung des Alten durch das Neue, sondern auch