Von hier aus also wurden die La-Doce-Geschäfte geführt, einem Parkplatz hinter einer Tankstelle. Etwa 30 bis 40 Männer hatten sich versammelt, alle im Alter zwischen 30 und 50 Jahren: Rafa di Zeos Leibgarde, die Getreuesten der Getreuen. Beäugt von den Männern, warteten wir im Zentrum des Parkplatzes. Schließlich trat Juan vor und legte uns die Regeln dar. Fotos waren nicht gestattet. Keine Filmaufnahmen. Kein Tonmitschnitt. Unter keinen Umständen durfte ich Rafa gegenüber erwähnen, dass ich Brite war. Der Falklandkrieg war unvergessen. Eines der älteren Mitglieder von La Doce, Mono (»Affe«), hatte noch dort gekämpft. Ich sollte mich unbedingt als Schwede wie Mikael ausgeben und sagen, dass ich über die Verbindung von Verein und schwedischer Flagge schreiben wolle. Angeblich soll das Blau und Gold von Boca auf ein schwedisches Schiff zurückzuführen sein, das gerade im Hafen lag, als man die Vereinsfarben auswählte. Auf gar keinen Fall sollte ich Fragen zum Krieg zwischen Rafa und Mauro stellen. Auch Mikael hatte mich bereits davor gewarnt, das Zerwürfnis der beiden anzusprechen. Falls doch, würde er gar nicht erst auf eine Antwort warten, sondern sofort abhauen und mich meinem Schicksal überlassen. Er war überzeugt, dass das nur ein böses Ende würde nehmen können.
Wir harrten eine halbe Stunde auf dem Parkplatz aus, bis Rafa sich schließlich aus dem Heck eines Wagens schälte, wo er noch etwas Geschäftliches erledigt hatte. Er trat zu uns und reichte mir die Hand. Rafa sah nicht wie einer der gefährlichsten Männer Buenos Aires’ aus. Er war Ende Fünfzig, großgewachsen, graue Mittelscheitelfrisur. Er trug einen schwarzen Trainingsanzug der Boca Juniors und glich eher dem Sänger einer Nu-Metal-Band aus der Mitte der 1990er-Jahre, die für ein letztes Comeback-Konzert zurückgekommen war. Seine engsten Vertrauten schlossen sich zu einem Ring um uns, doch Rafa war vom ersten Augenblick an äußerst charmant und willigte ein, dass ich unser Gespräch mitschnitt.
»Was ist La Doce?«, fragte ich ihn.
»Das lässt sich kaum in wenigen Worten sagen«, erklärte er und gab uns in der Folge einen porentief reingewaschenen Abriss der letzten vier Jahrzehnte. »Ich bin seit meinem 16. Lebensjahr bei La Doce dabei, seit knapp 40 Jahren also. Eine lange Zeit. Damals gab es noch einen anderen Boss [den Schlachter]. Nachdem ich Mitglied geworden war, blieb der Boss noch zwei Jahre, dann kam ein anderer und blieb eine ganze Weile. Er [der Großvater] war mein Lehrmeister. Als es dann Probleme in der Gruppe gab, habe ich den Posten übernommen. Seit Ende 1994 bin ich für die barra verantwortlich.«
»Was ist Ihre Aufgabe bei La Doce?«
»Als Anführer hat man den größten Einfluss, in jederlei Hinsicht«, sagte er. »Durch den technischen Fortschritt ist heute alles ein bisschen anders. Früher musste man als Boss mit den anderen hinchadas kämpfen. Es gab viel mehr Gewalt. Heute ist es ruhiger. Der Staat geht viel härter gegen uns vor. Als ich anfing, musste man sich prügeln, um sich seinen Platz zu verdienen. Immer dabei sein, in vorderster Front … Das ist heute nicht mehr so.«
Das harte Vorgehen des Staates hatte dazu geführt, dass Rafa nicht bei dem Spiel hatte sein können. Gegen ihn war zunächst ein zweijähriges Stadionverbot verhängt worden, das eigentlich wenige Wochen vor dem heutigen Spiel ausgelaufen wäre. Doch kurz bevor es so weit war, wurde ein neues, nunmehr vierjähriges Stadionverbot gegen Rafa, Mauro und 126 weitere La-Doce-Mitglieder verhängt.40 Also hatte er die Partie im Fernsehen verfolgen müssen. Die barra, sagte er, »ist gegen die Autoritäten, vor allem gegen die Polizei. Sie ist gegen jegliche Autoritäten. Daher darf niemand, der Verbindungen irgendwelcher Art zu den Autoritäten unterhält, bei uns Mitglied sein. Wenn doch, schmeißen wir ihn raus und schlagen ihn zusammen.« Ich fragte ihn nach der Bedeutung der Gewalt für die barra und wieso La Doce von den Autoritäten gefürchtet wurde. Ich spürte Mikael in meinem Rücken zusammenzucken, doch Rafa hatte kein Problem, darüber zu reden.
»Sie haben Angst vor unserer Macht und unserer Gewalttätigkeit«, sagte er. »Wenn sie [die Polizisten] einmal bei einem Kampf gewonnen haben, dann nur, weil sie auf uns geschossen haben. Ohne Munition hätten sie keine Chance. Wenn sie hier wie in Europa nur Schlagstöcke [keine Pistolen] einsetzen würden, wären sie alle längst tot. Einen Cop zu töten ist hier im Land etwas ›wert‹. Damit will ich sagen, dass man im Knast etwas ›zählt‹, wenn man wegen Polizistenmords einsitzt.«
Selbst vor dem entscheidenden Punkt scheute er nicht zurück. Dass Gewalt Spaß bringt. »Ich weiß noch eine Partie gegen Lanus und wie wir auf der Tribüne mit der Polizei gekämpft haben«, erinnerte er sich an sein Lieblingsspiel. »Wir haben sie nach draußen geprügelt, die ganze Treppe hinunter bis auf die Straße. Und wir haben zwei Polizeipistolen erbeutet. Ich sehe das alles noch genau vor mir. Oder wie wir in einem Stadion in Mar del Plata in den River-Block eingedrungen sind und ihre Fahne geklaut haben. Ihre wichtigste und kostbarste Fahne, das Symbol ihrer Identität.«
»Lieben Sie den Fußball nach wie vor?«, wollte ich wissen.
»Ja, natürlich«, gab er prompt zurück. »Ich würde allerdings sagen, dass ich Boca noch mehr liebe als den Fußball an sich. Ich bin verrückt nach Boca. Ich weiß nicht, was ohne Boca aus mir geworden wäre.« Er lachte. »Ich wäre zum Tennis gegangen!« Trotz Stadionverbots war er nicht weit weg vom Geschehen. Die Spieler waren weiterhin seine Kumpel, insbesondere Carlos Tevez. »Wir verstehen uns wirklich hervorragend und sind befreundet. Ich habe ihn schon gekannt, als er noch kein Profi war.«
Bei dem nach Madrid verlegten super-superclásico zwischen Boca und River war Rafa in Buenos Aires geblieben. Es war ohnehin zweifelhaft gewesen, ob man ihn ins Stadion gelassen hätte. Doch bei der Abfahrt des Mannschaftsbusses zum Flughafen hatten Zehntausende hinchas die Spieler mit Raketen und Trommeln verabschiedet. Der Trainer hatte sich mühsam durch die Menge kämpfen müssen. Rafa und Mauro hatten ihm den Weg gebahnt.
Rafa erwartete nicht, dass sein Stadionverbot noch lange Bestand haben würde. Er war inzwischen eine bekannte öffentliche Persönlichkeit, und das komplizierte alles. »Die Sache hat Vor- und Nachteile«, sagte er. »Nehmen wir die Politiker, Richter, Polizeichefs. Einerseits verdammen sie mich [öffentlich]. Andererseits wollen sie sich mit dir unterhalten, dich kennenlernen, etwas mit dir ausmachen.«
Die Politiker hatten ihn immer gebraucht. Macri hatte ihn gebraucht. Nach Ansicht von La Doce wäre Macri ohne ihre Hilfe nicht Präsident geworden. Später im Jahr standen erneut Präsidentschaftswahlen an, und es zeichnete sich bereits ab, dass Macri verlieren könnte. Rafa war überzeugt, dass es einen neuen Präsidenten und einen neuen Sicherheitsminister geben würde. »Mein Fall ist kein juristisches Problem, er ist ein politisches Problem«, erklärte er. »Am Ende des Jahres, nach dem politischen Umschwung, werde ich wieder im Stadion sein.« Politiker kamen und gingen. Doch Rafa di Zeo und La Doce blieben.
Meine Zeit war um. Das Gespräch hatte eine halbe Stunde gedauert, doch es hatte sich wie eine halbe Minute angefühlt. Auch von Mikael würde ich mich verabschieden. Er wollte noch in Argentinien bleiben und sich ein paar Spiele anschauen, während ich nach Brasilien weiterreisen wollte. »Ich dachte echt, du würdest auf den Krieg zu sprechen kommen«, verriet er mir nach dem Treffen erleichtert. Wir würden uns in Schweden wiedersehen, sagte er, dort würde ich mit eigenen Augen sehen können, dass in Schweden eine der besten Ultra-Szenen der Welt entstanden sei. Und natürlich würde Mikael mein Fremdenführer sein. Als das Interview hinter der Tankstelle offiziell vorbei war, rief Rafa di Zeo einen seiner Männer zu sich und befahl ihm, uns zu unserer Wohnung zurückzufahren. »Um diese Zeit ist es hier in der Gegend gefährlich«, erklärte er beinahe schon väterlich. Unser designierter Chauffeur witzelte, dass er hinten im Wagen genügend Waffen habe, um Las Malvinas im Alleingang zurückzuerobern.
Vor unserem Aufbruch kam es zu einer angespannten Pause, als würde Rafa noch etwas erwarten. Einen Moment lang fürchtete ich, ihn irgendwie beleidigt zu haben. Ich schaute zu Mikael und ließ dann den Blick über den uns umgebenden Ring muskelbepackter hinchas schweifen. Mikael schien unbesorgt. »Wenn ihr noch Fotos machen wollt, nur zu!«, sagte Rafa schließlich vergnügt. Ich kramte nach meinem Handy. Das Angebot kam völlig überraschend. »Als Erinnerung an diesen Moment«, sagte er, als wir unbeholfen nebeneinander posierten und ich ein Selfie knipste. Jeder ließ sich zusammen mit