Mit seinen klaren Anweisungen in der Regel wollte er ferner verhüten, dass sich seine Brüder den „Minores“, den Ungebildeten, Analphabeten und Armen, entfremden und unfähig werden, als Arme unter den Armen zu leben. Deshalb seine Hermeneutik des Verdachts gegen die geltende Bildungs- und Wissenschaftspraxis seiner Zeit, die er sicher in seiner Jugend selbst erlebt hatte. Franziskus war jedoch kein Bücherstürmer! Ihm ging es um ein anderes und neues Bildungsverständnis, um eine neue Sinn- und Zielbestimmung für die Ausbildung seiner Brüder. Er verlangte von seinen Brüdern, dass sie die Lebensform der Menschen in Armut und Bildungsferne teilen, um dann an der Seite der Armen Gott zu finden und mit ihnen Kirche und Gesellschaft neu zu gestalten. Er wollte Arme und Analphabeten seiner Zeit jedoch an Bildung und Kultur teilhaben lassen, deshalb dichtete er nicht in Latein, der Sprache der Literaten, sondern in der Sprache der Illiteraten, des einfachen Volkes. „Il cantico del sol“, der Sonnengesang, gilt unter Romanisten als das älteste altitalienische Sprachdokument.
Franziskus ist also kein kleingeistiger und naiver Analphabet! Er kannte die Bibel, schuf mit dem Sonnengesang Weltliteratur, entwickelte für seine Brüder ein völlig neues Regelwerk, ermahnte in Briefen alle „Lenker der Völker“ und „Kleriker“ und scherte sich nicht um die Meinung von Papst und Bischöfen, wenn er sich nur auf sein Gewissen, die Bibel und die Offenbarungen „seines allerhöchsten Herrn“ berufen konnte! Wissen, das ihm und den Brüdern half, die Bibel besser zu verstehen, war ihm heilig. Für Helmut Feld wurde der Orden der Franziskaner bereits hundert Jahre nach Franziskus zur „Domäne der exegetischen Wissenschaft“.1 Nicht erst Martin Luther hat aus der Unmittelbarkeit seiner Gotteserfahrung gelebt und sich auf sein Gewissen berufen. Dass wir es bei Franziskus mit einem höchst gebildeten Menschen zu tun haben, der sicher mehrere Sprachen beherrschte, messerscharf denken und urteilen konnte und über ein Höchstmaß an Empathie und Einfühlungsvermögen verfügte, zeigt sich in seinem Umgang mit den Gelehrten und Mächtigen seiner Zeit, aber noch mehr in seinen Verhaltenskonzepten, die wir aus den Berichten und Erzählungen zu seinem Leben, Denken und Handeln erschließen können. Weshalb kommt es dann zu diesen heute unverständlichen Attacken gegen Bücher, Studium, Wissenschaft und Bildung?
Was steht hinter seiner „Hermeneutik des Verdachts”?
Eins ist ganz sicher: Franziskus grenzt sich klar und unmissverständlich von dem ab, was die Menschen seiner Zeit als, Wissen“ suchten und wofür sie in Kirche und Welt dieses „Wissen“ einsetzten. Damit opponiert er gegen die damalige Wissenschaftspraxis und tut alles, um seine Brüder von diesen Strukturen fernzuhalten. Diese Abgrenzung ist wissenssoziologisch für das Verständnis seines Denkens und Handelns von größter Bedeutung. Er steigt aus den Formen aus, wie Menschen damals zu Wissen und Erkenntnis und damit auch zu Macht und Geltung kommen konnten. Jahrhunderte später stellt Michel Foucault fest, „dass sich Macht immer an Wissen und Wissen immer an Macht anschließt. Es genügt nicht zu sagen, dass die Macht dieser oder jener Entdeckung, dieser oder jener Wissensform bedarf. Vielmehr bringt die Ausübung von Macht Wissensgegenstände hervor, sie sammelt und verwertet Informationen.“2 Franziskus hat in seiner Zeit und auf seine Weise auch Macht ausgeübt. Was sind nun die „Wissensgegenstände“, die für ihn verbindlich sind und auf die er in seinen Briefen an die „Lenker der Völker“, die „Gläubigen“ und die „Kustoden“ Bezug nimmt?
Hat Franziskus Jahrhunderte vor Lyotard und Foucault bereits diesen verhängnisvollen Interessenmix von Wissen und Macht erkannt und durchschaut und bereits für seine Zeit nach Alternativen gesucht? Wenn ja – und vieles spricht dafür –, dann ist zu klären, wann und wo er diese Alternativen anspricht und wie er sie begründet. Damit stellt sich definitiv die Frage, wie Franziskus sich selbst in den damaligen Wissens- und Gesellschaftsstrukturen verstand und wie er sich mit seiner Bruderschaft in diesen Strukturen neu positionieren wollte. Es geht um alternative Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, um die Schaffung einer neuen Ordnung und eines neuen Zugangs, um sich selbst, die Menschen, die Welt und die Kirche zu verstehen. Mit der Abgrenzung von den scheinbar objektiv gültigen und das Leben der Menschen bestimmenden Weltsichten, Menschenbildern und Ordnungen macht sich Franziskus an die Arbeit, die Wirklichkeit neu zu denken und zu konstruieren. Wenn sich ein Mensch oder eine Gruppe in dieser Weise abgrenzt, wenn er aussteigt und sich gegenüber den geltenden kulturellen Standards seiner Zeit neu zu positionieren versucht, kann er nach Bourdieu3 gar nicht anders, als neue Haltungen – er spricht dabei von einem „Habitus“ – zu entwickeln, die ihm helfen, mit der Welt und den Menschen zurechtzukommen. In der Sozialforschung sprechen wir in diesem Zusammenhang von Transformationsprozessen. Genau darum geht es in den weiteren Ausführungen. Es wird interessant, diesen Prozess bei Franziskus weiterzuverfolgen.
Die Tatsache, dass uns Franziskus eine wunderbar ausformulierte Begründung zum Leben in Armut, aber kein Bildungskonzept hinterlassen hat, erlaubt aus wissenssoziologischer Perspektive nicht, die Frage nach Zielen und Inhalten einer franziskanischen Pädagogik ad acta zu legen. Wenn wir uns die Wirkung seines Denkens und Handelns auf Menschen bis heute vergegenwärtigen, dann zwingt uns diese Lücke, in seinen Schriften und in all den Erzählungen und Berichten über sein Leben uns auf die Spurensuche zu begeben und aufmerksam die Berichte zu Einstellungen und Verhaltensweisen aufzugreifen, in denen er „pädagogisch“ tätig wurde und bis heute die Menschen zur Nachfolge motiviert. Es ist doch erstaunlich, wie viele Schulen, Kindertagesstätten und Bildungseinrichtungen sich mit Franziskus beschäftigen und ihre Häuser nach ihm benennen. Was fasziniert die Menschen in diesen Einrichtungen an Franziskus?
Zugänge zu einer franziskanischen Pädagogik
Während die Armutsfrage als entscheidende Leitkategorie die Franziskusforschung durch all die Jahrhunderte bestimmte, blieben Aspekte franziskanischer Bildung und Erziehung eher ein Randthema. Es entsteht sehr schnell der Verdacht, dass Bildungseinrichtungen und Schulen nichts mit den ursprünglichen Intentionen des Gründers zu tun haben und ein Beispiel dafür sind, wie sich der Orden für die Rekrutierungsinteressen der Kirche instrumentalisieren ließ.
Könnte es sein, dass die seit Sabatier dominierende Hermeneutik zur franziskanischen Bewegung als „Verfallsgeschichte“ nicht doch eine Engführung darstellt? Franziskus wird heroisiert und zum Advokaten gegen eine korrupte und machtbesessene Kurie hochstilisiert, der es am Ende aber doch gelingt, die franziskanische Reformbewegung für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.
Wenn wir wissenssoziologisch Bourdieu folgen, der klar feststellt, dass jemand, der in dieser Radikalität wie Franziskus aus einem Gesellschaftssystem mit seiner Wissenskultur aussteigt, geradezu gezwungen ist, sich neu zu erfinden, um in Welt und Kirche überhaupt wieder zurechtzukommen, wie hat sich Franziskus dann diesen Herausforderungen gestellt? Welche Lösungen haben die folgenden Generationen gefunden? Bevor wir von einer „Verfallsgeschichte“ sprechen, lohnt es sich, im Leben dieses großartigen Menschen auf Spurensuche zu gehen, um herauszufinden, zu welchen Lösungen er bereits in seinem Leben gekommen ist.
Dabei richtet sich unser Blick zunächst einmal auf die religiöse Entwicklung von Franziskus. Auf welche Traditionen und Wissensbestände hat er zurückgegriffen, kurzum: was hat ihn „gebildet“ und sein Denken geprägt? Wer waren seine „Vorbilder“, an denen er sich orientierte oder von denen er sich abgrenzte? Wer war der geheime „Erzieher“, der hinter dem Leben und Werk von Franziskus steht? Wie hat er den Weg zu den Armen gefunden? Wozu wollte er seine Brüder „erziehen“? Das sind spezifisch pädagogische Fragen, auf die man in seinen Schriften und Biographien eine Antwort finden kann. Lassen sich aus solchen Erkenntnissen Prinzipien ableiten, die es uns erlauben, von einer eigenen franziskanisch ausgerichteten Pädagogik zu sprechen, die vielleicht genauso viel Sprengstoff und Konfliktpotential enthält wie sein Armutsverständnis? Was ist aus seinen pädagogischen Prinzipien in der weiteren Organisationsentwicklung des Ordens geworden?
Jedenfalls lohnt es sich, Franziskus und die Geschichte der Ordensgemeinschaften, die sich auf seine Regel berufen, einmal aus dieser Perspektive zu betrachten, gerade weil Franz von Assisi in den vergangenen acht Jahrhunderten dieser sogenannten „Verfallsgeschichte“ Generationen von Frauen und Männern in- und außerhalb des Ordens mit seinen Ideen prägte und ihr Leben formte. Wir finden in seinen Schriften sicher keine explizite