Der Schuss und das laute Krachen des in den Abgrund stürzenden Wagens wurden vom Wind weit getragen. Hasenstamm, der mit dem Wolfshund schon ein ganzes Stück weitergezogen war, blieb abrupt stehen und lauschte. Auch der Hund stellte die Ohren auf und legte den Kopf schief. Das Erste war eindeutig ein Schuss und kam aus Richtung des Steinbruchs. Hasenstamm warf sich auf dem Absatz herum und rannte zurück. Sein Gefühl sagte ihm, dass etwas Schreckliches geschehen war. Jede Zelle seines Körpers war alarmiert. Der Wolfshund trabte neben ihm her.
Hasenstamm näherte sich dem Steinbruch von der Talsohle her. Schritt für Schritt tastete er sich die letzten Meter vor, jede Deckung nutzend. Er hörte die lauten Stimmen von Männern, die Kommandos schrien. Im Steinbruch war es düster. Die Sonne erreichte nur kurze Zeit am Tag die Sohle aus rötlichem Buntsandstein. Er machte dem Hund ein Handzeichen und dieser blieb gehorsam zurück. Mit seiner schwarz-grauen Fellzeichnung verschmolz er völlig mit dem hier wuchernden Unterwuchs. Wenig später hatte Wolfgang Hasenstamm freien Blick auf die schockierende Szene. Für einen Moment war er völlig erstarrt. Mittlerweile war, neben zahlreichen Polizisten und SEK-Männern, auch die Feuerwehr am Grund des Steinbruchs eingetroffen. Die Feuerwehrmänner waren mit Hilfe eines Seilzugs dabei, den R 4 so aufzurichten, dass er wieder auf den Rädern stand. Beim Öffnen der Fahrertür fiel ihnen eine im Gesicht blutüberströmte weibliche Gestalt entgegen, die offensichtlich kein Leben mehr in sich trug. Hasenstamm rastete von einer Sekunde zur anderen völlig aus. Ohne nachzudenken, stürmte er mit einem Schrei, der nichts Menschliches mehr an sich hatte, aus seiner Deckung hervor. Die anwesenden Hilfskräfte und die Polizeibeamten wurden völlig überrumpelt. Mit wenigen Sprüngen erreichte er den demolierten Wagen und gab dem Feuerwehrmann, der sich gerade über die Frau beugen wollte, einen harten Stoß. Der Mann taumelte nach hinten und stürzte. Sein heiserer Schrei löste die Erstarrung der Polizisten. Instinktiv griffen einige zu ihren Waffen. Es dauerte einige Sekunden, bis sie begriffen, was sich da vor ihren Augen abspielte. Der Unbekannte warf sich über die Frau und nahm ihren Kopf in seine Arme. Ein trockenes Schluchzen erschütterte seine Brust, während er sich mit der Frau im Arm wie in Trance vor und zurück wiegte.
Den SEK-Männern war klar, dass es sich bei diesem Mann um den verfolgten Wolfgang Hasenstamm handelte. Auf ein Zeichen des Einsatzleiters hin näherten sich zwei der Polizeibeamten mit angeschlagenen Waffen dem verzweifelten Mann. Sie erfassten das Drama, das sich hier vor ihren Augen abspielte. Ohne sich abzusprechen, hielten sie sich einen Moment zurück, um ihm einen Augenblick des Abschieds zu gewähren. Plötzlich kam aus dem Unterwuchs des Steinbruchs ein fauchendes Knurren, das sie aufschreckte. Dann raste auch schon ein großer, dunkler Schatten heran, der sich sofort auf den ersten Beamten stürzte. Ehe die Einsatzkräfte richtig begreifen konnten, was sich hier abspielte, hing der große Wolfshund dem Polizisten an der Kehle und riss ihn mit seinem Körpergewicht zu Boden. Der Mann, vor Schreck völlig erstarrt, war zu keiner Abwehrbewegung fähig. Als die Uniformierten ihre Schrecksekunde überwunden hatten, schrien sie sich durcheinander Befehle zu. Die Läufe mehrerer Schusswaffen richteten sich auf das Tier. Keiner wagte jedoch zu schießen, da sie befürchteten, ihren Kollegen zu treffen. Sie waren wie paralysiert. Mitten in diese ausweglose Situation hinein erklang scharf die sonore Stimme Hasenstamms, der noch immer den Kopf der Frau auf seinem Schoß hielt.
„Grauer, lass aus! Grauer aus! Los, hau ab!“
Sofort ließ der Wolfshund mit blutigem Fang von seinem Opfer ab und war mit zwei weiten Sätzen im Unterholz verschwunden. Zwei Beamte hoben ihre Pistolen, um ihn noch von hinten zu treffen. Hasenstamm war aber schneller. Er ließ die Frau zu Boden gleiten, sprang auf und rempelte die Umstehenden mit Wucht von der Seite her an, so dass sie taumelten. Es löste sich ein Schuss, der aber wirkungslos in die Botanik ging. Als Hasenstamm nach der Dienstwaffe des gebissenen Beamten greifen wollte, gab ein Beamter in Zivil, der direkt daneben stand, einen schnellen Schuss auf ihn ab. Mit einem Aufschrei stürzte er zu Boden. Mit beiden Händen hielt er sein durchschossenes Bein. Sofort stürzten sich mehrere SEK-Männer auf ihn, drehten ihn auf den Bauch, rissen ihm die Hände nach hinten und legten ihm Handschellen an. Gegen diese Übermacht kam Hasenstamm nicht an. Der Einsatzleiter, der auf ihn geschossen hatte, steckte seine Pistole ins Holster zurück und gab mit ruhiger Stimme ein paar Anweisungen, die wieder Ordnung in die herrschende Aufregung brachten. Die Freiheit des unter anderem wegen Verdachts des Mordes gesuchten Wolfgang Hasenstamm war hier und jetzt zu Ende. Ruhig, fast unbeteiligt wirkend, lag er in Handschellen auf der Liege des Rettungswagens. Mit starrem Blick verfolgte er die Geschehnisse im Steinbruch. Er registrierte die intensiven Bemühungen des Notarztes um Anna. Sah sein resignierendes Kopfschütteln, da ihr nicht mehr zu helfen war. Danach suchte sein glühender Blick das Gesicht des Einsatzleiters, der auf ihn geschossen hatte. Er würde es sich für immer ins Gedächtnis einbrennen.
Der Beamte beachtete Hasenstamm aber nicht mehr. Er war tief betroffen über den Tod des Polizisten, den der große Wolfshund angegriffen hatte. Auch für ihn kam jede Hilfe zu spät. Das Tier hatte ihm den Kehlkopf und die Halsschlagader durchgebissen.
Wortlos wandte sich der Notarzt nun Hasenstamms Schusswunde zu. Obwohl diese Behandlung sehr schmerzhaft sein musste, gab er keinen Klagelaut von sich. Nach seinem emotionalen Ausbruch wirkte er abwesend, fast apathisch, als wäre er in einer anderen Sphäre. Sein Blick ruhte dabei auf den Konturen der toten Frau, die sich unter der Plane abzeichneten, mit der man sie mittlerweile abgedeckt hatte.
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Fünf Jahre später
Es war kurz vor vierzehn Uhr. Ein wolkenloser, heißer Sommertag ließ die Temperatur fast auf vierzig Grad steigen. Der Friedhof am Rande der kleinen Spessartgemeinde Wiesmühl lag direkt hinter der Kirche St. Raphael, in einem durch eine dichte Hecke begrenzten Areal. Nach Osten hin, nur knapp hundert Meter von der Umgrenzung entfernt, war in der flirrenden Luft die dunkle Wand des Waldrandes zu erkennen.
Die letzte Ruhestätte der Familie Hasenstamm lag in der südöstlichen Ecke des Friedhofs, direkt neben der Hainbuchenhecke. Der Erdaushub rund um das frische Grab war mit einer grünen Plane abgedeckt. Einige Buchsbäumchen in Pflanztöpfen und mehrere Flammenschalen auf metallenen Ständern gaben dem Ort eine gewisse Feierlichkeit. Im Augenblick lag das offene Grab noch verlassen da.
Der neutrale, grüne VW-Bus parkte auf dem kleinen Parkplatz in der Nähe des Eingangs des Kirchhofs. Der Motor war aus. Der Fahrer saß hinter dem Steuer und starrte gelangweilt auf das geschlossene Kirchenportal. In dem mit einem Gitter abgetrennten Fahrgastraum saßen auf der mittleren Rückbank drei Männer. Zwei, wie der Fahrer, in die Uniform von Strafvollzugsbeamten gekleidet.