Die Spur des Wolfes. Günter Huth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günter Huth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783429062552
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Armbanduhr. Die Besuchszeit war bald abgelaufen. „Da ist noch etwas, das du wissen sollst. Es geht um den Grauen. Sie haben ihn ja nie erwischt. Irgendwann haben sie davon gesprochen, dass er von einem Wolfsforscher eingefangen wurde. Der unterhält im Spessart ein Gehege mit einem Wolfsrudel. Angeblich soll der Graue jetzt in der Forschungsstation leben.“ Er nannte ihm die Örtlichkeit. „Aber, wie gesagt, das ist ein Gerücht.“

      Die Besuchszeit war abgelaufen. Vater und Sohn verabschiedeten sich voneinander. Sie waren es nicht gewohnt, großes Aufheben zu machen. Ein kräftiger Händedruck, ein längerer Blick, dann verließ der Alte den Besuchsraum. Wolfgang sah ihm einen Moment hinterher, dann ließ er sich auf seine Zelle bringen. Dieses Gespräch hatte ihn enorm aufgewühlt, auch wenn er sich äußerlich nichts anmerken ließ.

      Einige Monate später bekam er von seinem Vater einen Brief. In dem Schreiben berichtete er seinem Sohn, neben anderen Nebensächlichkeiten, von den Planungen für den siebzigsten Geburtstag seiner Tante am 15. Juni. Wolfgang Hasenstamm war klar, was das bedeutete. Seine Tante hatte im März Geburtstag. Am 15. Juni wurde Wolfgang Hasenstamm zur Anstaltsleitung gerufen und man teilte ihm mit, dass sich sein Vater das Leben genommen habe. Der alte Mann hatte seinen Entschluss also in die Tat umgesetzt. Wenige Tage später stellte Wolfgang Hasenstamm über seinen Anwalt den Antrag auf bewachte Ausführung, um an der Beerdigung seines Vaters teilnehmen zu können.

      Das Geräusch der Rotorblätter des näher kommenden Hubschraubers alarmierte den flüchtigen Strafgefangenen. Hasenstamm blieb stehen und lauschte. Wie es sich anhörte, flog der Helikopter mit mäßiger Geschwindigkeit und ziemlich dicht über den Baumwipfeln. Er war zwar noch ein ganzes Stück entfernt, aber Hasenstamm hatte keinen Zweifel daran, nach wem sie suchten. Vermutlich hatte der Heli eine Wärmebildkamera an Bord, sonst würde er nicht so dicht über dem Blätterdach fliegen, das ja keinen freien Blick auf den Waldboden zuließ. Hasenstamm sah sich um. Vor ihm befand sich eine Tannenkultur. Diese Wärmebildgeräte reagierten, wie er sich in der Gefangenenbibliothek angelesen hatte, auf alle warmen Körper, die sich von der Umgebungstemperatur abhoben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit nutzten auch Wildtiere diese Kultur hier als Tageseinstand. Wenn er Glück hatte, würde die Kamera mehrere Objekte aufzeichnen, was hoffentlich bei den Piloten für Verwirrung sorgte. Schnell überwand er die Distanz zu dem Unterschlupf und drang zwischen die Stämme ein. Nach etwa hundert Metern hielt er inne und kauerte sich auf den Waldboden zusammen. So würde sich auf dem Display nicht die typische Kontur eines menschlichen Körpers abzeichnen. Ab da erstarrte er zur Bewegungslosigkeit und lauschte in den Himmel. Der Hubschrauber kam näher. Plötzlich veränderte sich das Geräusch des Rotors nicht mehr. Offenbar stand der Heli auf der Stelle. Sicher war aber nicht er gemeint, denn dafür war der Helikopter noch zu weit entfernt. Es dauerte eine gute Minute, dann nahm das Fluggerät wieder Fahrt auf und … entfernte sich langsam von Wolfgangs Standort. Er atmete tief durch. Als das Geräusch verklungen war, verließ Hasenstamm die Deckung und marschierte weiter. Sobald er sein Ziel erreicht hatte, musste er sich wegen einer Bedrohung aus der Luft keine Gedanken mehr machen.

      Der Eingang zum Schacht an dem felsigen Steilhang war so gut hinter Brombeersträuchern und anderem Unterwuchs verborgen, dass Hasenstamm zuerst an ihm vorüberlief. Es war ja einige Jahre her, seitdem er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Die Natur rund um den Eingang hatte sich mittlerweile stark verändert. Hasenstamm drängte sich zwischen die Sträucher, bis er vor einem verrosteten Gittertor stand, das die Mine verschloss. Vor ihm befand sich einer jener alten Bergwerksstollen, in denen bis Anfang der vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts Schwerspat abgebaut wurde. Rund um Partenstein gab es eine ganze Anzahl dieser Gruben, die allerdings alle 1948 wegen mangelnder Ergiebigkeit geschlossen wurden. Damals fanden in diesen Gruben zahlreiche Spessartbewohner Arbeit und Lohn. Jetzt das ideale Versteck für einen flüchtigen Sträfling. Dieser und andere Stollen dienten viele Jahre als Verstecke für seinen Vater und ihn, wenn sie sich nach ihren Streifzügen einige Zeit unsichtbar machen mussten. Selbst bei den Einheimischen waren diese Schächte weitgehend in Vergessenheit geraten. Nur noch die Alten erinnerten sich an sie.

      Wolfgang Hasenstamm besah sich das Vorhängeschloss der Gittertür. Auf den ersten Blick wirkte es verrostet und nicht mehr funktionstüchtig. Als er allerdings mit der Fingerspitze über das Schloss fuhr, blieb ein feiner Ölfilm daran haften. Sein Vater hatte also Wort gehalten. Hasenstamm sah sich aufmerksam um. Die alte Eiche mit der Spechthöhle, in der sie schon früher den Schlüssel verwahrt hatten, stand noch immer. Wolfgang griff hinein und fühlte eine Plastiktüte, darin der Schlüssel. Der Mechanismus des Schlosses funktionierte einwandfrei. Sogar die Scharniere des Gitters waren geschmiert und gaben kein Geräusch von sich, als er es öffnete. Er trat ein und schloss hinter sich wieder ab. Das Tageslicht reichte nur einige Schritte in den Schacht, dann gähnte vor ihm die Finsternis. Hier sollte in einer Nische eine Taschenlampe bereitliegen. So hatten sie es jedenfalls früher gehalten. Ohne Probleme ertastete er einen weiteren Plastikbeutel. Ihm entfuhr ein anerkennendes Brummen, als er eine moderne Stirnlampe auswickelte. Er zog sie sich über den Kopf und schaltete sie mit einem Knopfdruck ein. Das grelle Licht der leistungsfähigen LED-Lampe drang weit in den finsteren Schacht hinein, der sich kurz nach dem Eingang deutlich nach unten senkte. Die Luft war gegenüber draußen kalt und feucht. Ein Stück weiter endeten die Reste der Schienen, auf denen mit Loren das Baryt nach draußen transportiert worden war. Wegen seiner Körpergröße musste er sich gebückt weiterbewegen. Die Streben, die den Schacht schon seit vielen Jahrzehnten abstützten, bestanden, wie er wusste, aus hartem Eichenholz, das auch nach so langer Zeit seine Stabilität nicht verloren hatte. Während er immer tiefer in den Berg eindrang, strömten zahlreiche Erinnerungen auf ihn ein. Erinnerungen an Erlebnisse, die er mit seinem Vater geteilt hatte. Nach etwa fünfzig Metern bekam der Schacht eine künstliche Erweiterung, welche die Bergleute geschaffen hatten, um dort zu rasten. Hasenstamm nickte zufrieden. Sein Vater hatte verschiedene Ausrüstungsgegenstände hierher geschafft, die ihm nun einen längeren Aufenthalt ermöglichten, bis die Suche nach ihm sich etwas gelegt hatte. Eine Militärliege, ein Klapptisch mit zwei Stühlen, ein Gaskocher, Schlafsack und eine Petroleumlampe. Zwei dunkle Kanister enthielten mehrere Liter Lampenpetroleum. In einem Rucksack lagerten zahlreiche Konservendosen. In einer Ecke waren eine Reihe von Kanistern aufgestapelt, die Trinkwasser enthielten. Außerdem fand er mehrere Kleidungsstücke mit Tarnmuster. Die Sachen waren, soweit zu ihrem Schutz erforderlich, in Plastikumhüllungen verpackt. In der Ecke fand er das, was ihm am wichtigsten war: einen Jagdbogen und einen Vorrat an entsprechenden Pfeilen. Es musste Wochen gedauert haben, bis sein Vater trotz seiner Krankheit all dies hierher geschafft hatte.

      Langsam ließ sich Wolfgang Hasenstamm auf dem Klappstuhl nieder und zündete die Petroleumlampe an, damit er die Batterien der Kopflampe sparen konnte. Jetzt fehlte ihm nur noch der Graue.

6

      Simon Kerner saß im Amtsgericht an seinem Schreibtisch, die Lehne seines Bürostuhls ganz nach hinten gekippt, und starrte zum Fenster hinaus auf die sich jenseits des Mains erhebenden Spessarthöhen. Vor einer Viertelstunde hatte er einen Schöffengerichtsprozess beendet, indem er den Angeklagten vom Vorwurf der schweren Körperverletzung freigesprochen hatte. Freisprechen musste, da die Beweislage alles andere als eindeutig war und er daher nach dem Rechtsgrundsatz in dubio pro reo, im Zweifel zugunsten des Angeklagten, urteilen musste. Sehr zu seinem Ärger, weil er in seinem Innersten davon überzeugt war, dass der Angeklagte seinen Nebenbuhler um die Gunst seiner ehemaligen Freundin niedergeschlagen und schwer verletzt hatte. Es war ihm leider nicht eindeutig nachzuweisen, weil sich die umworbene Dame plötzlich an nichts mehr erinnern konnte. Zu dem Zeitpunkt sei sie angeblich zu betrunken gewesen. Der Verteidiger des Angeklagten hatte dies natürlich gnadenlos ausgenutzt. Von der Geschädigten hatte man damals bedauerlicherweise keine Blutprobe genommen.

      Kerner erhob sich, packte seine Richterrobe, die er über einen Sessel am Besprechungstisch geworfen hatte, und hing sie über einen Bügel und in den Schrank. Anschließend goss er sich aus einer Thermoskanne eine Tasse Kaffee ein und griff sich einen Keks von einem Teller. Seine Gedanken wandten sich dem gestrigen Telefongespräch mit seinem Freund Eberhard Brunner zu. Die Nachricht, dass sich der Verurteilte Wolfgang