Einen Überblick von Autoren aus Anselms Umfeld hat in drei – auf fünf Jahrzehnte verteilten – Anläufen Richard Southern vorgelegt. Sein wegweisender Beitrag „St. Anselm and his English pupils“ (1949) präsentiert zunächst drei „Mitarbeiter“ (associates) Anselms, die sich als Überlieferer (transmitters) seiner mündlichen Lehre hervortaten, nämlich Eadmer als engsten Schüler und Biograph, Alexander, dem wir die Sammlung der „Dicta Anselmi“ verdanken, sowie den Verfasser der „Similitudines Anselmi“, um anschließend auf die drei „besten von Anselms Schule hervorgebrachten“11 Theologen einzugehen : Gilbert Crispin, Ralph von Battle – dessen Schriften Southern damals noch versuchsweise Ralph d’Escures zuordnete – und Elmer.
In Southerns großer Anselmstudie „Saint Anselm and his biographer“ (1963) kommt es diesbezüglich zu gewissen Verschiebungen. So behaupten zwar Gilbert und Ralph ihren Platz in der Fraktion der „theologischen Erben Anselms“,12 doch fällt Elmer aus dieser heraus und wird durch Honorius Augustodunensis ersetzt. Die Gruppe der recorders von Anselms Ansprachen und Unterredungen bleibt dagegen unverändert. Einer von ihnen, Eadmer, wird zur Hauptfigur; neu ist ferner Southerns Vermutung, die Zusammenstellung der „Similitudines“ könnte auf Wilhelm von Malmesbury zurückgehen.13 An verschiedenen Stellen des Buches finden sich Kurzporträts weiterer Freunde und Schüler Anselms: von Boso, Osbern und dem in die Gruppe der Prioren von Christ Church neu eingeordneten Elmer.
In der Neubearbeitung von Southerns Werk, „Saint Anselm: a portrait in a landscape“ (1990), ist Eadmer nicht länger einer der Titelhelden, ohne deswegen seine Rolle als Protagonist einzubüßen. Was die übrigen Gestalten im Umkreis Anselms angeht, werden nur geringfügige Änderungen vorgenommen. Anselms theologische Erben heißen nunmehr elaborators und die Überlieferer seiner mündlichen Lehre collectors.14 Elmer wird nur noch nebenbei erwähnt. Dafür tritt Boso weiter in den Vordergrund, da Southern jetzt in ihm den Kompilator der „Similitudines“ (sowie den Verfasser zweier Zusätze zu Eadmers Anselm-Biographie) vermutet.15
Selbst Herausgeber von Eadmers Vita, Alexanders „Dicta“ wie auch der „Similitudines“, sieht Southern zwischen beiden Gruppen ein deutliches Gefälle. Während es den drei Übermittlern gelang, Anselms Leben und Werk vor dem Vergessen zu bewahren, waren die Schüler, die diesem demütigen Riesen denkerisch nachzueifern oder sich doch auf seine Schultern zu stellen wagten, weit weniger erfolgreich. Gilbert etwa, der vollständigste theologische Adept Anselms, erweist sich in seinen Beiträgen zur philosophischen Theologie als bodenständiger Denker, der „eher in der biblischen Exegese zu Hause“16 war. Ralph trat zwar als Verfasser von anselmisch inspirierten Dialogen zur philosophischen Theologie in Erscheinung, die besseren unter seinen Werken sind jedoch, seiner „etwas farblosen Persönlichkeit und Denkart“17 entsprechend, von eher meditativem als argumentativem Charakter. Elmer greift in seinen Gebeten und Meditationen den Stil Anselms auf – so sehr, dass man sie ähnlich wie die Gebete und Meditationen Ralphs für Werke seines berühmten Vorbilds halten konnte; doch neigt er in seinen längeren, von „englischer Spekulationsarmut“ gekennzeichneten Ausführungen zum Stumpfsinn.18 Ein solches theologisches Mittelmaß wird nach Southern verständlich, wenn man bedenkt, dass diesen Männern inmitten ihrer geistlichen wie weltlichen Pflichten kaum Zeit für wissenschaftliche Vertiefung blieb und sie als spekulative Theologen über keine nenneswerte kritische Zuhörerschaft verfügten.19 Nur durch ihre unter Anselms Namen tradierten Gebete und Meditationen vermochten sie Bleibendes zu leisten. Das gilt in theologischer Hinsicht auch für Eadmer, den vielseitigsten und – wegen seines biographischhistoriographischen Doppelwerks – größten unter Anselms Schülern: Sein „De conceptione virginis“, eine in Gebetsform gekleidete Abhandlung, wurde später als Werk Anselms angesehen und prägte, mit dessen Autorität versehen, die Lehre von der unbefleckten Empfängnis.
Diese Urteile bedürfen aus heutiger Sicht der Korrektur. Sie beruhen auf einer für einen Historiker außergewöhnlich tiefgründigen, jedoch theologisch und philosophisch nicht hinreichend informierten Lektüre der Quellen. Einige dieser Texte werden erst seit kurzem editorisch erschlossen und von Fachleuten interpretiert. Im Falle Gilberts wurde Southerns gewiss zu harsches Verdikt über seine philosophische Qualitäten mittelbar für die noch immer verbreitete Aufassung maßgeblich, er habe der Vernunftmethode seines Lehrers Anselm reserviert gegenübergestanden – eine bedauernswerte Fehldeutung, die Southern selbst so nicht unterlief.20 Vor allem seine Bewertung der Theologie Ralph von Battles, bis in die jüngste Zeit noch weitgehend terra incognita, wäre zu revidieren. In Ralphs Hauptwerken begegnet, verglichen mit Anselm, ein Gegenentwurf, demzufolge die Theologie nur teilweise – und nicht quasi insgesamt – als eine philosophische konzipiert ist. In methodischer Hinsicht nimmt Ralph eine Mittelstellung zwischen den Positionen seiner beiden Lehrer Lanfranc und Anselm ein.21 Elemente seines bemerkenswerten Beweises der Existenz Gottes erinnern an Forderungen in dem Gaunilo zugeschriebenen „Liber pro insipiente“.22 Anselm war folglich auch in seinem philosophischen Gottesdenken nicht völlig allein. Wie schließlich die Bedeutung Elmers einzuschätzen ist, hängt entscheidend von der Antwort auf die Frage ab, ob sich ihm die „Compilationes Ailmeri“ alias „Sententiae Magistri A“ zuordnen lassen, wodurch er als Theologe auf der Höhe seiner Zeit – wenn auch bei Weitem nicht auf der Höhe Anselms – erscheinen würde.
Die Berücksichtigung von Anselms Lieblingsschüler Boso von Le Bec in dieser Studie bedarf vielleicht einer Rechtfertigung, bemerkte Southern doch: „Boso, der intellektuell begabteste seiner Schüler, hat nichts geschrieben.“23 Es könnte daher scheinen, als ob er eines der Aufnahmekriterien nicht erfüllt. Tatsächlich lässt sich Boso mit einiger Sicherheit nur ein längerer Brief zuschreiben. Doch hält ihn Southern selbst wie gesehen für den wahrscheinlichsten Autor der „Similitudines Anselmi“. Boso ist darüber hinaus einer der aussichtsreichsten Kandidaten für die Verfasserschaft des „Libellus Anselmi Cur Deus homo“. Und Boso war, wiederum in den Augen Southerns, unter Anselms Schülern der vielleicht einzige, der einen „eigenständigen Beitrag“24 zum Denken seines Lehrers zu leisten vermochte. In der Tat legt die Lektüre von Anselms „Cur Deus homo“ den Schluss nahe, dass Boso an der Entwicklung von Anselms Beweis der Notwendigkeit der Inkarnation keinen geringen Anteil hatte. Indem Anselm das Werk als Dialog zwischen Boso und sich selbst konzipiert und seinem Freund und Schüler im Gespräch eine aktive Rolle zuweist, macht er ihn gewissermaßen zum Mit-Autor.25
Zwei der hier versammelten Autoren kommen in Southerns Anselmstudien überhaupt nicht oder nur ganz am Rande vor: Goscelin und Reginald gehörten in Canterbury nicht zur selben Kommunität wie Anselm, sondern zu jener von St. Augustin. Gleichwohl widmete der eine (Goscelin) ihm und seinem Vorgänger Lanfranc zwei seiner besten Werke und dichtete der andere (Reginald) Verse auf ihn. Die Beziehung zwischen den Gemeinschaften von Christ Church und St. Augustin war zwar oft weit davon entfernt, harmonisch zu sein – Goscelins Deutung des Todes seines Amtskollegen Osbern, des Präzentors von Christ Church, als Strafe für dessen Parteinahme zugunsten der Gegner von St. Augustin im Streit um die Reliquien der heiligen Mildred, die Revolte gegen den von Lanfranc zum Abt von St. Augustin ernannten Wido im Anschluss an Lanfrancs Tod, das Beharren der Mönche von St. Augustin auf ihrer eigenen Kirche als rechtmäßigem Weiheort von Abt Hugo gegen den Willen