Im Auftrag des Himmels. Stephan Wahl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stephan Wahl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783429061982
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gebe euch ein empfindliches Gewissen,

       dass ihr hellwach bleibt für das,

       was neben euch geschieht.

       Gott, der Ewig-Treue, schütze alle,

       die zu euch gehören, und sei mit allen,

       die euch zugemutet werden, wie ihr auch ihnen.

       Er gebe euch öfter Humor und Leichtigkeit

       und sei mit allen,

       die sich in diesem Jahr verlieben werden.

       Er verlasse euch nicht in all dem,

       was schön und was schwer sein wird.“

      Das wünschte und erhoffte der kleine Engel nicht nur für die Besucher des Silvestergottesdienstes, sondern für alle Menschen auf ihren Wegen und Umwegen.

      Klappe halten

      Auch Engel haben bisweilen schlechte Laune. Nicht alle, aber Aljoscha, Gottes kleiner Lieblingsengel, gehörte dazu. Missmutig hatte er sich hoch oben auf einem Baugerüst niedergelassen, das zurzeit den Turm einer alten Kirche verdeckte. Weder die wunderbare Aussicht noch das fast sommerliche Wetter konnten seine Stimmung heben. Es war wohl ein Fehler, sagte er zu sich, sich zur sehr mit manchen Diskussionen in der Kirche beschäftigt zu haben. Die Gelassenheit der großen Engel, die in Jahrtausenden dachten und die jetzigen Scharmützel wie alles Vorübergehende nur milde belächelten, diese himmlische Gelassenheit hatte der kleine Engel nun mal nicht. Aljoscha war halt Aljoscha.

      Was ihm Kopfschütteln bereitete, war, mit welcher Inbrunst manche Positionen als unverrückbar bezeichnet wurden, auch solche, bei denen mit Blick auf die eigene Geschichte eher Zurückhaltung angesagt wäre. Beispiel: Sexualität. Als Engel war er hier naturgegeben kein Experte, aber er wunderte sich oft, wer sich da als solcher verstand und das auch lautstark, bisweilen peinlich, deutlich machte. Ein kecker Kabarettist hatte einmal gesagt: „Man darf zu allem eine Meinung haben, aber man muss nicht“ und empfahl deswegen, öfter einmal einfach die Klappe zu halten.

      Daran erinnerte sich Aljoscha und dachte, wie es wohl wäre, wenn die Christen, besonders ihre Würdenträger, zum Thema Sexualität einfach mal für einige Zeit den Mund halten würden. Gab es nicht genug andere, brennendere Themen, um Position zu beziehen? Die größer werdende Armut so vieler und die gnadenlose Raffgier einiger weniger, der oft respektlose und uninteressierte Umgang mit Asylbewerbern, besonders mit den Kindern und Jugendlichen unter ihnen, das Machtgehabe der Putins oder anderer Despoten, die schleichende Renaissance der Euthanasie und so weiter. Warum immer an den Türen der Schlafzimmer pochen? Ehepaare und Nicht-Verheiratete brauchen Unterstützung und nicht Reglementierung und: Respekt vor einer Nähe, die nur sie persönlich angeht. Sex und Zärtlichkeit ist mehr als Kinder kriegen.

      Der kleine Engel merkte, dass er sich langsam etwas in Rage redete. Außerdem, dachte er, das Abendland wird sicher nicht untergehen, wenn Schwule oder Lesben nicht nur gnädig so sein dürfen, wie sind, sondern das dann auch leben. Sie haben sich ja nicht ausgesucht, dass sie so sind, wie sie sind. Aljoscha konnte gut verstehen, dass sie dies nicht als Defizit sehen wollten oder als Kreuz, sondern als Geschenk, als Gabe Gottes. Wissen die Menschen eigentlich, was sie vielen von ihnen verdanken, zum Beispiel in Musik und Kunst? Die Lücken wären groß, dachte der kleine Engel, erinnerte sich an manche großen bekannten Namen, aber auch an die, die weniger im Rampenlicht standen oder mit viel Kraft diesen wichtigen Teil ihrer Persönlichkeit nach außen verbargen.

      Aljoscha ließ seinen Blick über die Häuser der Stadt streifen und schwieg lange. Aber vielleicht ändert sich ja doch noch einiges, sagte er dann zu sich, und sein Blick hellte sich etwas auf, als er an die vorsichtige Bewegung dachte, die bei einem andern Streitthema, dem Problem „Geschieden-Wiederverheiratete“, zu erkennen war. Das immer wiederkehrende Thema Barmherzigkeit war keine Floskel in den Ansprachen des neuen Papstes. Mal sehen, was so alles passiert in der nächsten Zeit, dachte Aljoscha, und unterbrach seine nachdenklichen Gedanken, weil es nun wirklich Zeit war für einen Einsatz, der ja zu seinen eigentlichen Aufgaben gehörte. Aber das Nachdenken über diese und andere empfindliche Themen, und zwar differenzierend und barmherzig, war dem kleinen Engel einfach wichtig. Weniger für sich als mit Blick auf die Menschen.

      Aljoscha beschloss, dies einigen Christen besonders ans Herz zu legen, auch und gerade denen, die in der Kirche wichtige Entscheidungen treffen durften. Und weil Engel sofort umsetzen, was sie für nötig halten, verließ er, nun besser gelaunt, seinen Aussichtsplatz hoch über den Dächern und fing sofort damit an.

      Der Rücktritt

      Langsam müsste sie doch nervös werden, dachte Aljoscha, Gottes kleiner Lieblingsengel, und blätterte in einer Zeitschrift, die sich wieder einmal mit Queen Elisabeth II., der englischen Langzeit-Königin, beschäftigte. Erst musste diese die Rücktrittsankündigung der viel jüngeren niederländischen Amtskollegin zur Kenntnis nehmen – und jetzt auch noch der Papst. Der kleine Engel verspürte spitzbübische Lust, sich zu einem Kurzbesuch in den Buckingham Palace aufzumachen, doch für diesen unengelhaften Vorwitz bekam er sicher keine himmlische Starterlaubnis, und so ließ er diesen Gedanken schnell wieder fallen.

      Es gab in diesen Tagen in der Tat Wichtigeres zu bedenken. Die Nachricht vom geplanten Rücktritt des betagten Papstes Benedikt XVI. hatte natürlich auch unter seinen Kollegen für Aufregung gesorgt, jedenfalls bei den unteren Chargen. Für die wichtigeren Engel und für „ganz oben“ war das Ereignis keine Überraschung. Wie sollte es auch. Lange schon hatte man die Gebete und das Ringen des Papstes um eine richtige Entscheidung erlebt und ihn sicher nicht damit allein gelassen. Was sich aber da im Tiefsten zwischen dem Allmächtigen und dem Nachfolger Petri ereignet hatte, das würde ein kleiner Engel wie Aljoscha nie erfahren. Das musste er auch nicht. Aber er ahnte, dass mit dieser Entscheidung etwas ganz Neues begonnen hatte. So etwas wie ein revolutionärer Schritt in der Geschichte und auch der Theologie des Papsttums, sagte Aljoscha zu sich selbst. Leise, denn diese Formulierung war ja doch etwas gewagt. Andererseits war es nichts Zufälliges, was sich da ereignet hatte, sondern ein bewusstes und historisch bedeutsames Überqueren einer Schwelle, die in neues Land führte.

      Das ist mal wirklich Gottvertrauen, ohne doppelten Boden, dachte der kleine Engel und erinnerte sich an das Wort des damals neuen Papstes, das er in die unübersehbar große und bunte Menschenmenge bei seiner Amtseinführung am 24. April 2005 gerufen hatte: „Wir sind nicht das zufällige und sinnlose Produkt der Evolution. Jeder von uns ist Frucht eines Gedankens Gottes …“ Und bei Papst Benedikt hatte sich Gott sicher sehr viel gedacht und deswegen war dessen überraschender Mut bestimmt nicht nur die menschlich-verständliche Entscheidung eines rechtschaffen-müden, alt gewordenen Mannes. Das sicher auch, denn beide Zeugnisse, die seines päpstlichen Vorgängers, der sein Leiden nicht versteckt und es der Tod und Krankheit ausblendenden Gesellschaft entgegengehalten hatte, und Benedikts Eingeständnis der Schwäche, die ebenso nicht zum Power-Lifting unserer Zeit passte, sind ein bewegendes Zeichen, dass auch der „Heilige Vater“ nur ein Mensch ist. Gewiss, die Frucht eines besonderen Gedankens Gottes, gewiss, dachte der kleine Engel. Aber ein Mensch.

      Und keck, wie er nun einmal war, stellte er sich vor, dass irgendwann einmal ein Titel des Papstes abgelegt werden würde, wie einst die Tiara. Als Meilenstein auf dem Weg zur Einheit der Christen. Nicht der „Pontifex“, denn „Brückenbauer“ passte doch in vielerlei Hinsicht hervorragend, aber „Stellvertreter Christi“! War dies nicht doch eine Nummer zu groß für dieses Amt? Und ein Anspruch, der jeden, selbst den heiligmäßigsten Nachfolger Petri, überfordern musste? Das fragte sich Aljoscha und war froh, dass