Es war einmal ein Reformator namens Martin Luther, der veröffentlichte 1529 »für den Unterricht der Kinder und Einfältigen« einen Deudsch Catechismus, worin er in fünf »Hauptstücken« die christliche Lehre zusammenfasste: Zehn Gebote, Glaubensbekenntnis, Vaterunser, Taufe und Abendmahl (mit Beichte!). Andere taten es ihm gleich, und so wurde aus der Grimmschen Belehrung ein Gebot, das angeblich auf die Bibel zurückging: »Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohlergehe und du lange lebest auf Erden.«
Es waren einmal ein paar Neugierige, die haben nachgesehen, ob das wirklich so in der Bibel steht, und die haben dort etwas ganz anderes gefunden, nämlich: »Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt« (Exodus 20,12; vgl. Deuteronomium 5,16). Gemeint ist: Nur wenn das Volk auch die Alten ehrt, hat es eine Zukunft in dem von Gott verheißenen Land.
Es war einmal ein Jude mit Namen Jeschua, der kam aus Nazaret und erzählte seinen Landsleuten in bunten Bildern und mittels farbiger Vergleiche von Gott und von dessen Reich und wie es wäre, wenn die Menschen nicht nach ihrem Willen, sondern nach den Plänen dieses Gottes zu leben versuchten. Einige Jahrzehnte später wurde das alles festgehalten auf Papyrus und auf Pergament, und fortan hieß es nicht mehr: ›Es war einmal ...‹, sondern: ›ES STEHT GESCHRIEBEN!‹ Und die Menschen begannen, darüber zu diskutieren und zu debattieren und zu spekulieren, wie das Geschriebene gemeint sei, wurden dabei handgreiflich, schlugen einander die Köpfe ein, führten Kriege – aber einig geworden sind sie sich bis heute nicht. Und so fragen sich inzwischen immer mehr Christenmenschen, ob es nicht an der Zeit sei, einander wiederum vermehrt zu erzählen, wo sie Gott geortet haben in ihrem Leben, warum sie sich von ihm abgewandt haben, wie sie mit ihm rechten, und ob der Glaube an ihn ihnen hilft, das Leben zu bestehen. Viele und sehr unterschiedliche Geschichten wären da wohl zu hören, und manche davon würden beginnen, wie viele Geschichten früher zu beginnen pflegten: »Es war einmal ...«
JESUS, DER GUTE WIRT
»Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, lässt die Schafe im Stich und flieht, wenn er den Wolf kommen sieht.« Es haftet diesen Worten aus dem 10. Kapitel des Johannesevangeliums etwas ungemein Tröstliches an. Nicht weniger trostvoll ist das Gleichnis vom verlorenen Schaf, das sich im 15. Kapitel des Lukasevangeliums findet. Dort geht es um Jesu Herzenssorge für die Sünder und Sünderinnen.
Der vierte Evangelist hingegen hat ganz anderes im Sinn. Seine Darstellung ist von Ezechiel inspiriert, der im Auftrag Gottes gegen die Könige Israels auftritt: »Menschensohn, sprich als Prophet gegen die Hirten Israels und sag ihnen: Weh den Hirten Israels, die nur sich selbst weiden. Müssen die Hirten nicht die Herde weiden?« (Ezechiel 34,1–2). Und weiter: »So spricht Gott der Herr: Jetzt will ich meine Schafe selber suchen und mich selber um sie kümmern« (34,11). Die Botschaft des Evangelisten ist klar: Was Ezechiel verheißen hat, ist in Jesus Wirklichkeit geworden. Er ist der gute Hirt, der Sorge trägt für die Herde.
Bevor wir diesen Gedanken weiter entfalten, machen wir einen kleinen Abstecher zu dem auf der linken Rheinseite gelegenen Städtchen St. Goar, das seinen Namen von dem gleichnamigen Einsiedler herleitet, der dort im 6. Jahrhundert lebte. Der Legende zufolge hatte der gutmütige Eremit für alle, die bei ihm anklopften, ein gutes Wort. Im Wissen, dass ein Seelentrost erst richtig wirkt, wenn auch der Leib zu seinem Recht kommt, ließ Goar es nicht bei erbaulichen Reden bewenden, sondern hielt für seine Gäste überdies eine körperliche Stärkung bereit. Das muss sich schnell herumgesprochen haben. Der steigende Zulauf jedenfalls veranlasste ein paar Neidhammel unter den Klerikern, Übles über den gastfreundlichen Gottesmann zu verbreiten: Er sei ein Schwelger und Saufaus, der seine Zelle zur Zechstube umfunktioniert habe, wo er sich bei Bier und Wein mit gemeinem Lumpengesindel verbrüdere.
Solche Vorwürfe seitens einiger Scheeläugiger musste sich rund anderthalb Jahrtausende vorher schon Jesus gefallen lassen. Er selber beschwerte sich ausdrücklich darüber; nachzulesen im 11. Kapitel des Matthäusevangeliums: »Der Menschensohn ist gekommen; er isst und trinkt; darauf sagen die Leute: Dieser Fresser und Säufer. Dieser Freund der Zöllner und Sünder.« Also ganz wie Jahrhunderte später beim heiligen Goar ...
Goar hat die Pilgersleute verköstigt. Jesus hingegen hat das eucharistische Mahl gestiftet – der gute Hirt als guter Wirt. In diesem Mahl aber ist der Geber selber die Gabe: »Ich gebe mein Leben hin für die Schafe.« Das bezieht sich allerdings nicht bloß auf Jesu Kreuzestod, sondern auf seine ganze Existenz, auf sein Leben und Leiden, auf sein Handeln und Heilen, kurzum auf seinen unermüdlichen Dienst an den Mitmenschen. Seiner Sendung ist er treu geblieben, obwohl er wusste, dass ihn das das Leben kosten würde. So hat er gezeigt, dass es Dinge gibt auf dieser Welt, für die es sich nicht nur lohnt zu leben, sondern auch zu sterben.
Wenn man die Bildrede vom guten Hirten vor diesem Hintergrund betrachtet, merkt man plötzlich, dass es dabei nicht um Erbauung geht, sondern dass sie einiges an kritischem Potenzial beinhaltet.
Der gute Hirt ist da für die Herde. Er denkt nicht an sein eigenes Fortkommen und schon gar nicht an irgendwelche Privilegien, sondern einzig und allein an die, welche ihm anvertraut sind.
Dass das seinen Nachfolgern nie ganz gelingen kann, liegt auf der Hand. Die im Auftrag Jesu handeln, sind eben Menschen. Und Menschen beweisen nicht nur Stärken, sondern haben auch Schwächen. Da kann es schon einmal vorkommen, dass ein Teil der Herde wider den einen oder anderen Hirten blökt. Aber das kennen wir ja schon aus den Zeiten des Propheten Ezechiel.
AUFS GUTE WORT FOLGT BÖSE TAT
Vor gut zwei Jahrzehnten ist es einem Naturwissenschaftler und Hobbytheologen scheinbar gelungen, die Höchsttemperatur des Höllenfeuers zu berechnen. Dabei berief er sich auf die Geheime Offenbarung, wo es heißt, dass die Verdammten in einen See mit brennendem Schwefel geworfen würden (21,8). Die Temperatur eines solchen Sees aber darf 444,6 Grad nicht übersteigen; sonst würde der Schwefel verdampfen. Dass man mittels einer fundamentalistischen Bibellektüre vieles beweisen kann, im Bedarfsfall sogar das Gegenteil dessen, was man kurz zuvor gerade bewiesen hat, zeigt der Dichter und Theologe Johann Peter Hebel in einer seiner berühmten Kalendergeschichten. Und die geht so:
In Hertingen, als das Dorf noch rottbergisch war, trifft ein Bauer den Herrn Schulmeister im Felde an. »Ist’s noch Euer Ernst, Schulmeister, was Ihr gestern den Kindern zergliedert habt: So dich jemand schlägt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar?« Der Herr Schulmeister sagt: »Ich kann nichts davon und nichts dazu tun. Es steht im Evangelium.« Also gab ihm der Bauer eine Ohrfeige und die andere auch, denn er hatte schon lang einen Verdruss auf ihn. Indem reitet in einer Entfernung der Edelmann vorbei und sein Jäger. »Schau doch nach, Joseph, was die zwei dort miteinander haben.« Als der Joseph kommt, gibt der Schulmeister, der ein starker Mann war, dem Bauer auch zwei Ohrfeigen und sagt: »Es steht auch geschrieben: Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch wieder gemessen werden. Ein voll gerüttelt und überflüssig Maß wird man in euern Schoß geben.« Und zu dem letzten Sprüchlein gibt er ihm noch ein halbes Dutzend drein. Da kommt der Joseph zu seinem Herrn zurück und sagt: »Es hat nichts zu bedeuten, gnädiger Herr; sie legen einander nur die Heilige Schrift aus.«
Mittels der Bibel wurde schon vieles ›bewiesen‹. Zum Beispiel, dass die Erde die Form einer Scheibe habe; dass die Anwendung der Todesstrafe gottgewollt sei; dass es gotteslästerlich sei, Leichen anatomisch zu untersuchen ... Gegen diese Art von Schriftinterpretation war selbst der heilige Augustinus nicht immer gefeit. Als es ihm nicht gelang, die nordafrikanische Sektenbewegung der Donatisten mittels Argumenten zur Kirche zurückzuführen, fand er in Jesu Gleichnis vom Gastmahl eine Stelle, welche seiner Ansicht nach ein gewaltsames Vorgehen rechtfertigte. Als die Erstgeladenen mit fadenscheinigen Entschuldigungen fernbleiben, schickt der Hausherr einen Diener auf die Landstraßen, mit dem Auftrag: »Nötige die Leute zu kommen!« (Lukas 14,23). Was Jahrhunderte später zu dem Irrglauben führte,