Toter Chef - guter Chef. Georg Langenhorst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Georg Langenhorst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783429064099
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sicherer fühlte als zuvor in dieser seltsamen und letztlich ungeklärten Mischung aus Privatleben und Beruf. „Wir müssen einfach noch viel besser verstehen, wie eine Schule von innen funktioniert. Nein“, verbesserte er sich, „wie diese Schule funktioniert, das KaRaGe, das Domgymnasium in Friedensberg.“

      Verena überlegte. „Was soll ich sagen? Das ist eine wirklich gute Schule. Ich bin froh, dort gelandet zu sein. Wenn irgend möglich, möchte ich da bleiben. Ich habe ja bislang nur einen Zeitvertrag.“ Dominik Thiele nickte. Die angedeutete Perspektive gefiel ihm. Auch er hatte sich in Friedensberg gut eingelebt.

      Kellert unterbrach Verena jedoch: „Gute Schule? Was heißt das?“ Sie schmunzelte: „Genau, das ist die Frage, nicht wahr? Darüber streiten sich die Pädagogik, die Philosophie und die Politik seit Jahrhunderten. Für mich heißt das: Wir versuchen, unseren Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. Sie zu fördern. Und zu fordern. Immerhin sind wir ein Gymnasium. In einer Atmosphäre, die von Vertrauen geprägt ist. Zwischen Schülerschaft und Lehrerschaft, aber auch im Kollegium untereinander.“

      Sie unterbrach ihren Gedankengang und blickte an die weiß getünchte Zimmerdecke. „Ja, das versuchen wir. Mit unterschiedlichem Erfolg, klar. Aber die Schüler können bei uns wirklich etwas lernen, fachlich und menschlich. Und wir im Kollegium sind eigentlich eine ganz gute Gemeinschaft. Soweit ich das beurteilen kann, ich bin ja erst seit zweieinhalb Jahren mit dabei. So richtig erst seit September. Als Referendarin hat man ja einen Sonderstatus, halb Teil des Teams, halb Gast auf Zeit.“

      „Das klingt doch alles sehr gut“, kommentierte Dominik Thiele. „Fast schon zu gut“, warf Kellert ein. „Also bei eurer stellvertretenden Chefin, bei dieser“ – er überlegte kurz – „Ingrid Wiesmüller, klingt das anders. Sie hat uns, also der Kollegin Mellrich und mir, von dauerhafter Spannung und Konflikten erzählt.“

      „Ja, die Wiesmüller!“, lachte Verena Thiele auf. „Die ist schon eine besondere Marke, oder? Ständig unter Spannung. Ständig in Inszenierung. Da schmunzeln besonders die älteren Männer im Kollegium. Hinter ihrem Rücken natürlich. ‚Mach mal langsam, Mädchen‘, hat der Müllner letzte Woche gesagt, als sie nach einem ihrer typischen Auftritte im Lehrerzimmer wieder verschwunden war. Großes Gelächter.“

      „Aber ihre Einschätzung über die Schule …?“, schob Kellert nach. „Die ist natürlich nicht falsch“, räumte Verena ein. „Und das ist trotzdem kein Beleg dafür, dass ich mit meiner Wahrnehmung Unrecht hätte. Beides stimmt. Schule kannst du immer unter verschiedenen Perspektiven betrachten, das ist nun einmal so. Natürlich brodelt es unter der Oberfläche. Ständig werden einige belohnt, andere abgestraft; einige bestätigt, andere in ihrer Schwäche bloßgestellt; einige befördert, andere gegen ihre Erwartungen links liegen gelassen. Aber was willst du machen? Das ist nun einmal in der ganzen Gesellschaft so. Wie sollte Schule da eine Ausnahme bilden? Wir sind doch Teil dieser Gesellschaft, keine Sonderwelt. Aber wir versuchen wenigstens, fair und offen miteinander umzugehen. Wenigstens das.“

      Sie schwiegen und nippten an dem noch handwarmen Tee. Dann ergriff Kellert das Wort: „Und der Chef, der Dr. Geißendörfner, wie war der so?“ Verenas Augen verengten sich. „Dass der jetzt tot ist! Das kann ich mir noch gar nicht so richtig vorstellen. Ich weiß es, kann es aber eigentlich nicht fassen. Und dass irgendjemand ihn ermordet hat! Vielleicht sogar jemand, den ich kenne. Wenn es denn einer aus der Schule war! Was ich mir einfach nicht vorstellen kann. Beim besten Willen nicht.“

      Sie verlor sich in Erinnerungsbildern, gab sich dann aber einen Ruck. „Ja, wie war der? Ich persönlich bin glänzend mit ihm ausgekommen. Er mochte mich, das war deutlich.“ Dominik Thiele zuckte kaum merklich zusammen, schaute kurz zu ihr herüber, unterbrach sie aber nicht. „Ohne ihn wäre ich kaum am KaRaGe gelandet. Ein weiser älterer Herr. Gütig. Mit einer natürlichen Autorität. Dabei warmherzig. Mit einem Sinn für Gerechtigkeit. Ausgeglichen. Und seinerseits immer um Ausgleich bemüht. So etwas kannst du nicht lernen. Ich hatte großen Respekt vor ihm.“

      Nun mischte sich ihr Mann doch in das Gespräch ein. Er beugte sich vor und versuchte ruhig zu bleiben: „Nur Respekt? Richtig geschwärmt hast du von dem, wenn ich mich richtig erinnere. Aber das sieht für mich – von heute aus betrachtet – doch ein bisschen anders aus. Äh: Hat er dich mal angemacht? War der hinter den jungen Kolleginnen her?“

      Empört blickte Verena zu ihm hinüber: „Also echt, Domm! Das war eher der Vatertyp. Ohne Hintergedanken. Da war keine Doppelbödigkeit. Bei mir ganz bestimmt nicht. Und bei anderen …“ – sie überlegte – „nein, da kann ich mich wirklich an nichts erinnern. Dass ihr Männer immer gleich an so etwas denkt!“

      Dominik Thiele machte eine Entschuldigungsgeste und lehnte sich in seinen Sessel zurück, schickte aber noch eine Bemerkung hinterher: „Aber vor einigen Jahren hatte er definitiv eine Affäre mit einer jüngeren Kollegin eurer Schule. Das steht fest!“ Kellert warf ihm einen scharfen Blick zu. Das hätte sein Kollege eigentlich nicht verraten dürfen. Das war eine interne Information. Der Kriminalhauptmann biss sich auch sofort auf die Lippen. Blöd, da war der Gaul mit ihm durchgegangen. Passierte ihm sonst nicht. Aber das konnte eben vorkommen, wenn Privat- und Berufsleben sich vermischten.

      Verena schaute verwundert. Sie zweifelte keinen Moment daran, dass diese Aussage stimmte. „Echt!?“, rief sie verblüfft. „Das hätte ich nie gedacht. Und davon habe ich auch noch nie etwas gehört am KaRaGe. Keine Silbe! Aber er hat doch auch diese wunderbare Frau, Thea. Die ist bei offiziellen Anlässen doch fast immer mit dabei. Eine richtige Dame, denke ich immer.“ ‚Du auch?‘, grinste Thiele innerlich. ‚Aha, da haben sie am Gymnasium also ein System von Geheimhaltung aufgebaut. Zum Schutz aller Beteiligten. Und es scheint zu funktionieren‘, ging es Kellert durch den Sinn.

      Verena schüttelte den Kopf. Sie musste das Gehörte erst verarbeiten. Es brachte das Bild, das sie sich von ihrem ehemaligen Chef gemacht hatte, ins Wanken. „Der Geißendörfner!“, murmelte sie.

      9.

      „Ena“, wandte sich Dominik Thiele einige Minuten später an seine Frau, nachdem er das Teegeschirr in die Küche gebracht hatte. „Wir suchen natürlich nach einem Motiv. Warum bringt jemand einen Menschen um, den du als so freundlich und ausgeglichen erlebt hast? Und nicht nur du. Das hören wir eigentlich von fast allen, die wir nach diesem Geißendörfner befragen. Warum also? Warum hat man ihn umgebracht? Natürlich, das kann etwas mit seinem Privatleben zu tun haben oder womit auch immer. Aber eben auch mit seinem Beruf. Erinnerst du dich an ganz besondere Streitigkeiten oder Konflikte?“

      Sie dachte nach. „Ihr sucht jetzt nach etwas Besonderem jenseits des normalen Alltagsgeplänkels, richtig?“ Kellert und Thiele nickten. „Ich bin natürlich noch nicht lange dabei“, rief sie in Erinnerung. „Aber drei Dinge fallen mir durchaus ein, wenn ihr mich nun so fragt. Kurz nachdem ich hier richtig angefangen habe, also …“ – sie überlegte – „im Oktober muss das gewesen sein, da gab es mal eine heftige Auseinandersetzung um einen Schüler aus der Zwölften, der von der Schule verwiesen wurde. Warum, weiß ich nicht. Seine Eltern haben jedenfalls richtig Ärger gemacht. Einmal musste der Chef den Vater fast mit Gewalt aus der Schule führen lassen. Vorher hatte es im Direktorat so richtig geknallt. Laut, Gebrüll, mit Türenschlagen und allem.“

      Sie überlegte kurz: „Und danach gab es ein Gerichtsverfahren. Aber alles war rechtens. Die Schule und der Chef hatten sich vollkommen korrekt verhalten, wenn ich mich richtig erinnere. Tja: Es gibt Eltern, die halten sich an keine Regeln. Ätzend! Jedenfalls: Da könnte man einmal nachhaken.“ Kellert hob seine Augen in Richtung seines Mitarbeiters und schloss sie kurz. Thiele wusste, was das zu bedeuten hatte: sein Job! ‚Schön, so stelle ich mir Teamarbeit vor‘, dachte Kellert und grinste still in sich hinein.

      „Ist was? Habe ich etwas verpasst?“, fragte Verena Thiele nach, der das Grinsen nicht entgangen war. „Nein, nein: alles in Ordnung, Entschuldigung!“, gab Kellert zurück und blickte sie ermunternd an. Sie hing auch noch einem anderen Gedanken nach: „Gut, also die zweite Sache, die mir einfällt: Als ich ganz frisch an der Schule war, im September, da gab es einmal eine komische Situation. Seltsam, dass ich mich jetzt daran erinnere. Da wurden in der Konferenz die Beförderungen verkündet, vom Chef natürlich. Da