Dantes Theologie: Beatrice. Stefan Seckinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Seckinger
Издательство: Bookwire
Серия: Bonner dogmatische Studien
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429062156
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ist es, die eine vorherbestimmbare Eltern-Kind-Übertragung von Eigenschaften bzw. Neigungen verunmöglicht (Par. VIII, 133–135)314. Im Widerstreit von Natur und Schicksal (fortuna, ebd., 139)315 liegt die Dramaturgie gescheiterter Lebensexistenz :

      Natur muß immer, wenn sie sich nicht einig

      Mit ihrem Schicksal, so wie jeder Same

      Fern von der Heimat, schlechte Früchte tragen.

      Und wenn die Welt dort unten achten würde

      Wohl auf den Grund, wie die Natur ihn legte,

      Und ihr nur folgte, wären gut die Menschen.«316

      Dante plädiert demnach für eine individuelle und differenzierte Sichtweise bzgl. der je eigenen Berufung. Er sieht die Berufswahl und eigene Lebensführung als multifaktoriell bedingt ; letztlich und maßgeblich haben sie sich an Gottes Willen zu orientieren. Das Scheitern eines Lebensentwurfes liegt in dieser Perspektive im Nichteinwilligen in die Berufung durch Gott (bzw. in deren Nichtwahrnehmen, Nichtwahrhabenwollen) zugunsten einer in traditionell-kulturellen Formen verlaufenden Vorfestlegung. Einwilligung in Gottes Gabe (»Zu jener Glut, die allem tut Genüge«317) und Aufgabe ist somit Voraussetzung individuellen als auch gemeinschaftlichen Gelingens in Diesseits und Jenseits.318

      Ein dritter Fragenkreis dreht sich um die Möglichkeit der Rettung gerechter Ungetaufter (hier Ripheus und Trajan).319 Im XIX. Gesang wendet sich das von den Seligen dieser Himmelssphäre geformte Adlerbild dem Jenseitsreisenden zu, der in diesem Anblick der personifizierten divina guistizia (ebd., 29) seinen großen Zweifel (dubbio ; ebd., 33) äußert und über das Geheimnis der göttlichen Gnadenwahl belehrt wird. Der dreieinige Gott als Urgrund alles von ihm Geschaffenen, als Finalisationspunkt seiner Schöpfung320, ist für den Menschen auf Erden in seiner Selbstoffenbarung gnadenhaft im Glauben zu erfassen und dennoch zeitlebens nicht durchschaubar (was dem Wesen des Glaubens entspricht). Er bleibt seinen Geschöpfen ein Mysterium – v. a. bzgl. des unverdienten Rechtfertigungsgeschehens des Einzelnen. Die Trennung von occolto e manifesto (ebd., 42), die Unterscheidung der Geheimnishaftigkeit des verborgenen Ratschlusses Gottes hinsichtlich des Einzelschicksals einerseits und seiner Manifestation in Offenbarung und kirchlicher Verkündigung andererseits, ist Grundlage jeder Verständnissuche im Bereich des Glaubens und der Theologie. In der Distinktion von mysterialer Letztundurchdringlichkeit des individuellen Erwählungs und Erlösungsvorganges, seiner theoretischen Thematisierung und schließlich existentiellen Einholung (als gläubige Annahme des Gnadengeschehens) liegt die notwendige Voraussetzung einer adäquaten Betrachtung des soteriologischen Handelns Gottes am Menschen. Das Geheimnis der Erwählung verlangt die Selbstbescheidung des Denkens und eine demütige Gottzugewandtheit in Glauben, Hoffen und Lieben als ein personal-freiheitliches Geschehen321, getragen von seiner zuvorkommenden und begleitenden Gnade :

      »Und daraus folgt, daß jedes kleinere Wesen

      Gering Gefäß nur ist für jenes Gute,

      Das endlos ist und nur sich selbst zum Maße.

      Darum kann unser Schauen, das notwendig

      Nur einer von den Strahlen jenes Geistes,

      Von welchem alle Dinge hier durchdrungen,

      Schon von Natur niemals so mächtig werden,

      Daß nicht sein eigner Ursprung könnt erkennen

      Weit über das hinaus, was ihm noch sichtbar. […]

      Es gibt kein Licht als das von jenem Himmel,

      Der sich nie trübt ; das andre ist nur Dunkel

      Und Schatten von dem Fleisch und seinem Gifte.«322

      Der Zweifel Dantes, wie ein Christusunkundiger gerechterweise von der ewigen Anschauung Gottes ausgeschlossen werden könne, nimmt ein bedeutendes Thema der gesamten DC erneut auf.323 Die Zusammenschau von Willensfreiheit (des Menschen) und Gnadenwahl (Gottes)324 verdichtet sich in der Frage : Wie sollte Gott den von Christus und der Heilsnotwendigkeit seiner Gnade nichts wissenden Gerechten (»[…] wäre gut sein Tun und Wollen, soweit der menschliche Verstand es siehet, und sündenlos ist er in Wort und Wandel ; doch stirbt er ungetauft und ohne Glauben«325) von seiner Anschauung ausschließen, ihn der Verdammnis, der Finsternis des Limbus aussetzen :

       Ov’ è questa giustizia che il condanna ?

       Ov’ è la colpa sua, se ei non vrede ? 326

      Der Zweifel Dantes ist schwerwiegend und entspricht seiner großen Sehnsucht nach Wahrheitsfindung in der Korrelation von eigener Überzeugung und dem Glauben der Kirche sowie ihrer theologischen Lehre. Die zur Demut im Denken mahnende Antwort des die Gerechtigkeit Gottes symbolisierenden Adlers sucht die Ernsthaftigkeit dieses Zweifels in die Frag-Würdigkeit des göttlichen Ratschlusses zu verlegen, der sich gerade darin als göttlicher, d. h. vom Menschen nicht kalkulierbarer erweist. Der Christ ist sich zeitlebens weder seiner Erwählung zur visio, noch seiner ewigen Verdammnis sicher, und auch andere können ihm sein ewiges Schicksal nicht voraussagen.327 Er weiß sich in seinem tiefsten Inneren niemals im Status der absoluten, unverlierbaren Sicherheit seinem eigenen Heil und ebenso wenig dem der anderen gegenüber ; in seiner Gnadenwahl ist sich allein Gott selbst einsichtig – den Glauben des Menschen ermöglichend, seine Hoffnung erheischend und seine Liebe einfordernd :

      »Wer bist denn du, der drüber zu Gerichte

      Auf tausend Meilen Ferne sitzen möchte

      Mit einem Blick so kurz wie eine Spanne ?

      Gewiß, wer mit mir diskutieren möchte,

      Der fände Wunder wieviel zu bezweifeln,

      Wenn euch die Bibel (la Scittura) nicht gegeben wäre.

      O irdische Wesen (terreni animali), o ihr rohen Geister !

      Der erste Wille, der für sich schon gut ist,

      Verläßt sich selber nie, das höchste Gute.

      Das ist gerecht, was mit ihm steht im Einklang.«328

      Das Wort der himmlischen Gerechtigkeit bleibt in seiner Unergründlichkeit und Schicksalsschwere stehen :

       A questo regno

       Non salì mai chi non credette in Cristo

      Nè pria nè poi ch’el si chiavasse al legno.329

       3.3.2 Das Übermaß an irdischem Streben oder der Merkurhimmel

      Die Zunahme der Leuchtkraft von Beatricens Augen (die sie von Gott bzw. dessen Schau empfängt) steigert die Lichtempfänglichkeit und das Sehvermögen Dantes, der in dieser Bewegung, in der Licht, Schauen, Freude (letizia in Par. V, 107) oder auch Lächeln (riso in Par. VII, 17), Erkennen und Lieben eine Einheit bilden330, emporgehoben wird zum zweiten Stern, dem Merkurhimmel. Innerer Antrieb des Aufstieges331 ist das unauslöschbare Sehnen Dantes nach Gott, das in Beatricens Blick Aufnahme und (zunächst noch vermittelte) Erfüllung erfährt. Dante wird von den Seligen des Merkurhimmels begrüßt mit den Worten : Ecco chi crescerà li nostri amori. Die von Gott auf sie ausstrahlende Liebe gewinnt in der Gemeinschaft durch jede neue ihnen hinzugewonnene Seele Zuwachs.332 Die Liebe der communio sanctorum ist demnach auch als eine gemeinschaftliche zu sehen, als eine von Gott selbst herkommende Dynamik, die den anderen mit hineinnimmt und niemals individualistisch sich nur zwischen dem Einzelnen und seinem Schöpfer abspielt (dies im Unterschied zum Wesen der Verdammten – von jedweder Geborgenheit vermittelnden Gemeinschaft Isolierten – als der sich gegenseitig Schädigenden und Verleumdenden).

      Im Merkurhimmel trifft Dante Kaiser Justinian333 (Selbstnennung in Par. VI, 10), der in Par. VI, 1