Mit Engeln und Eseln. Andreas Knapp. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Knapp
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429061524
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sagte jetzt auch der Schmied. „Aber wir brauchen noch einen Namen für diesen lustigen Hut.“

      Die Sprechchöre draußen wurden immer lauter.

      „… mit Rat und Tat! Mit Rat und Tat! Mit Ra…“

      „Das ist doch ein schöner Name“, rief Nikolaus augenzwinkernd: „Mit-ra!“, und trat lachend vor die Tür.

      So hat also der gute Bischof Nikolaus von Myra vor vielen Jahrhunderten die Mitra erfunden. Und bis heute erinnern die hohen Hüte der Bischöfe daran, dass wahre Größe darin besteht, sich für das Leben der kleinen Leute einzusetzen und ihnen mit Rat und Tat zu helfen.

       nikolaus

       er hatte nie auf gold vertraut

       machte vielmehr seinen besitz

       flüssig zu anderen hin

       aus leuchtenden kinderaugen

       strahlt ihm ein heiligenschein

       vaterfigur die das nichtfürchten lehrt

       in seiner güte schmeckt man

       die schokoladenseite des menschen

      Wie ein Engel aussieht

      Es war alles so schnell gegangen. Ganz überraschend jedoch war das Schreckliche nicht gekommen. Schon vor einigen Tagen kreisten Hubschrauber über dem abgelegenen Seitental des Großen Zab-Flusses. Die Kinder liefen auf die nahen Hügel, um die knatternden Monster zu sehen. Von dort oben konnte man bei klarem Himmel bis zum Cilo Dagi schauen, dem großen Berg, der schon jenseits der Grenze in der Türkei liegt. Nur von weitem, so erzählten die Kinder mit Begeisterung, hätten sie die donnernden Metallvögel gesehen. „Ob Engel so ähnlich aussehen?“, wollte ein Hirtenmädchen wissen. Doch die Erwachsenen schüttelten den Kopf. Die metallenen Ungeheuer waren für sie eher Teufel als Engel. Wie Engel aber aussehen, könnten sich die Menschen nicht vorstellen. Und Bilder von Engeln gebe es keine. Der Koran verbietet alle Bilder von Gott und seinen Engeln.

      Ein paar Tage lang blieb es ruhig und alle hofften, dass die Unruhen ihr Dorf verschonen würden. Doch wenn das Ungetüm des Krieges einmal entfesselt ist, so kann es niemand mehr bändigen und es verschlingt alles. Mitten in der Nacht wurden sie aus dem Schlaf gerissen. Zuerst waren Schüsse zu hören. Dann Einschläge von Granaten. Einige Männer wussten sofort: „Panzer!“ Schon kurze Zeit später waren die rasselnden Geräusche der Ketten zu hören, die mit unheimlicher Geschwindigkeit talaufwärts näher kamen. Es gab kein elektrisches Licht in Kündö. Im Schein von Petroleumlampen packte man schnell das Kostbarste ein, um damit auf die umliegenden Hügel und von dort in die felsigen Bergtäler zu fliehen.

      Naze war mit ihrem zweijährigen Mädchen auf den Armen losgelaufen, während ihr Mann Risgar noch ein paar Sachen zusammensuchte. Überall hörte man die Schreie der Dorfbewohner, die im Dunkeln wild durcheinanderliefen, um sich vor dem nahenden Unheil zu retten. „Naze!“, schrie Risgar, der aus der Hütte herausstolperte. „Hierher!“, hörte er die Stimme seiner Frau und lief auch schon los. Doch dann ein Blitz, ein lautes Krachen und die Druckwelle, die ihn zu Boden riss. Einen Augenblick lang lag Risgar wie tot. Sekunden später raffte er sich wieder auf und lief dorthin, wo Naze ihn gerufen hatte. Sie lag am Boden, die weinende Azade im Arm. Aber sie rührte sich nicht mehr. Als Risgar sie betastete, war ihr Kopf voller Blut. Sie war anscheinend von einem Granatsplitter getroffen worden. Risgar stand wie gelähmt vor Schmerz. Obwohl das Gedröhne der Panzer schon bedrohlich nahe gekommen war, rührte er sich nicht. Dann riss ihn das Schreien von Azade aus seiner Ohnmacht. Instinktiv griff er nach dem Kind, hob es auf die Schultern und lief in die Nacht hinaus. Er kannte die Hügel und die felsigen Täler auf der anderen Seite des Flusses. Er lief, ohne anzuhalten, weiter und weiter. Nach Stunden kam er an den Fuß eines Steilen Gebirges. Hier war er noch nie gewesen. Es dämmerte am Horizont, als er mit dem beschwerlichen Aufstieg begann.

      Als Risgar in der darauffolgenden Nacht einen Bergkamm und damit die Grenze des Irak überschritten hatte, wanderte er noch lange, bis er endlich zu einem Dorf kam. Ängstlich schlich er sich näher, das erschöpfte Kind in seinen Armen. Als er die Leute in kurdischer Sprache reden hörte, weinte er vor Freude und Erschöpfung. Man nahm ihn auf und kümmerte sich um Azade. Hier war man an Flüchtlinge gewöhnt. Die wenigen Habseligkeiten, die Risgar gerettet hatte, musste er als Preis für die weitere Fahrt abgeben. Er wusste nicht, wohin es gehen sollte. Doch man hatte ihm gesagt, es sei ein Land, wo er in Sicherheit wäre.

      Das Asylbewerberheim liegt im Leipziger Westen, an der Ratzelstraße. Mit Hilfe eines Dolmetschers wurde Risgar über seine Rechte und Pflichten als Asylbewerber aufgeklärt und dass er die Stadt Leipzig nicht verlassen dürfe, bis sein Asylantrag angenommen sei. Sein Fall würde jetzt von den deutschen Behörden bearbeitet. Nach allem, was er erzählt habe, stünden seine Chancen nicht schlecht. Allerdings müssten seine Aussagen jetzt erst einmal auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Und das könne dauern.

      Risgar erlebte die Einquartierung und die zahlreichen Vernehmungen mit all den Papieren, die auszufüllen waren, wie einen bösen Traum. Er war innerlich noch gar nicht in seinem Gastland angekommen. Der schreckliche Überfall auf sein Dorf, der entsetzliche Tod seiner Frau, die abenteuerliche Flucht, die beständige Sorge um die kleine Azade, die oft weinte und nach ihrer Mutter rief, all das wühlte ihn so auf, dass das Neue noch gar keinen Raum fand. Doch er musste sich nun zwingen, das Vergangene loszulassen. Denn ihm ganz allein war jetzt das Leben von Azade anvertraut. Er spielte mit seinem Töchterchen, ging mit ihr spazieren und erzählte Geschichten aus Kündö und den Tälern des Großen Zab. Vielleicht redete er dabei auch viel mit sich selbst, vor allem, wenn er von Naze sprach. Er hatte seine Frau sehr geliebt. Und wenn er seine Tochter ins Bett legte, saß er oft noch lange neben dem Kind und schaute das unschuldige Gesicht an. Es war das Gesicht von Naze. Erinnerungen wurden wach und seine Augen feucht.

      So vieles war ungewohnt an seiner neuen Umgebung. Als Erstes fiel Risgar auf, dass es hier schon früh dunkel wurde. So kurze Tage hatte er noch nie erlebt und er fürchtete sich vor der langen Dunkelheit. Dann bemerkte er, dass es in Deutschland fast keine Kinder gab. Bei ihm zuhause waren die Straßen immer voller Kinder. Aber hier sah man nur alte Leute. Eine Ausnahme gab es: die Familien im Asylbewerberheim. Sie kamen aus den verschiedensten Ländern und hatten Schweres erlebt. Doch alle hatten die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und daher wohl auch Kinder.

      Beim Einkaufen nahm Risgar immer seine Tochter Azade mit. Er hätte sie auch bei einer Nachbarin aus dem Sudan lassen können, die hilfsbereit und freundlich war und selbst drei kleine Kinder hatte. Aber Azade hing sehr an ihrem Vater und klammerte sich ständig an ihn. So gingen die beiden bis zu einem großen Gebäude in der Stuttgarter Allee, das mit seiner Kuppel an eine Moschee erinnerte. Aber es war keine Moschee. Es war ein Tempel zum Einkaufen, ein riesiger Basar. Als Risgar das Einkauf-Center zum ersten Mal betrat, stand er wie betäubt in der großen Halle und starrte auf all die verschiedenen Geschäfte und Läden. Er hatte einmal den Basar von Mosul besucht. Doch was er hier sah, übertraf alle seine Träume. So viele Kleider, Schuhe, Bücher und Geräte, von denen er noch gar nicht wusste, wozu sie dienten.

      Er ging nach links und rechts und zeigte Azade all die bunten Sachen, die hier ausgestellt waren. Dann entdeckten die beiden einen ganz besonderen Laden. Schon im Schaufenster leuchteten und glitzerten viele Dinge. Azade strahlte über das ganze Gesicht, als ihr Vater mit ihr zusammen das Geschäft betrat. Da gab es grüne Nadelbäume aus Plastik, über und über behängt mit schillernden Kugeln und glitzernden Fäden. Auf einem niedrigen Tisch standen bunte Kerzen und große Stofftiere, die wie Hirsche aussahen. Plötzlich riss sich Azade von ihrem Vater los und lief auf ein Regal zu, in dem bunt angemalte Holzfiguren standen. Azade griff nach einer kleinen hölzernen Frauenfigur, die Flügel hatte und in ihren Händen eine dünne rote Kerze trug, und drückte sie fest an sich. Risgar wollte seiner Tochter das Spielzeug schon wieder wegnehmen. Doch als er die leuchtenden Augen von Azade sah, brachte er es nicht übers Herz.