Hugo Rahner, ein großer Kenner der ignatianischen Spiritualität, macht darauf aufmerksam, dass sich in der Schlosskapelle von Loyola unter einem Gemälde der Verkündigung des Engels an Maria der Wappenspruch der Familie Loyola befindet: »Warum nicht« (pour quoy non).3 Darin wird ausgedrückt, dass der adelige Mut eines Ritters nicht vor einem ängstlichen »Warum« zurückweicht. In den Wochen nach seiner Verwundung, die sich Ignatius bei der Verteidigung der Festung Pamplona zugezogen hatte, betete er vor dem Verkündigungsbild. Für ihn wird immer klarer, dass ein Mensch, der Gott dienen will, sich nicht von Angst und Kleinmut hindern lassen kann: »Warum sollte Gott jemanden wie mich rufen?« Der ängstlichen Frage nach dem »Warum« wird ein großmütiges »Warum nicht« entgegengehalten. Ist Maria für Ignatius ein Mensch, der sich nicht ängstlich auf die Frage »Warum« zurückzieht? Welche »Stationen« kennzeichnen den Weg des Ignatius mit Maria?4
• In der Zeit seiner schweren Krankheit in Loyola phantasiert Ignatius in seinen ritterlichen Tagträumen, was er im Dienst einer hohen Dame – vermutlich handelte es sich dabei um Catalina, die jüngste Schwester Karls V. – tun würde, »welche Sprüche und Worte er ihr sagen und welche Waffentaten er vollbringen würde« (BP 6). Eines Nachts zeigt sich ihm eine andere Dame, Maria mit dem Jesuskind. Im Blick auf Maria ergreift Ignatius eine »Abscheu vor seinem vergangenen Leben, insbesondere vor den Dingen des Fleisches, dass ihm schien, er habe aus seiner Seele alle Vorstellung entfernt, die er vorher in ihr trug. Seit jener Stunde […] gab er niemals mehr auch die geringste Zustimmung in Dingen des Fleisches« (BP 10).
• Auf eine fast schon anrührende Weise beschreibt Ignatius seine Leseerfahrung und die Bedeutung Marias für ihn: Mangels Alternativen beginnt er die Betrachtungen über das Leben Christi des Kartäusers Ludolf von Sachsen und eine Sammlung von Heiligenlegenden, die Legenda aurea des Dominikaners Jacobus de Voragine, zu lesen. Nachdem diese Bücher eine tiefere Zufriedenheit in ihm hinterlassen als die herkömmlichen Ritterromane, intensiviert er seine Lektüre und macht sich Notizen in einem Buch, das schließlich 300 Seiten umfasst. Seine besondere Beziehung zu Christus und zu Maria macht sich folgendermaßen fest: »Die Worte Christi schrieb er mit roter Tinte, die Unserer Lieben Frau mit blauer« (BP 11). Eine Hervorhebung in einer Zeit, in der es Textmarker noch nicht gab. Er markiert die Worte der Personen, die für ihn in der Heilsgeschichte am wichtigsten sind. Diese Worte sollen ihn prägen und verändern.
• Nach seiner Genesung bricht Ignatius auf aus seiner Heimat Loyola. Sein Ziel ist Barcelona, wo er die Erlaubnis für eine Wallfahrt ins Heilige Land erbitten will. Seine erste Station ist der baskische Marienwallfahrtsort Aránzazu, wo er wahrscheinlich ein Keuschheitsgelübde ablegt.
• Auf dem weiteren Weg gerät er mit einem Mauren in ein dogmatisches Streitgespräch um Maria. »Mauren« nannte man die nach der spanischen Rückeroberung von Granada (1492) im Land gebliebenen Muslime, die sich taufen ließen, um einer Vertreibung zu entgehen. Der Maure glaubt zwar, »dass die Jungfrau ohne Mann empfangen habe; dass sie aber beim Gebären Jungfrau geblieben sei, das könne er nicht glauben« (BP 15). Ignatius ereifert sich über die Frage nach der »virginitas in partu« (der Jungfrauenschaft Marias in der Geburt) derart, dass er seinem Gesprächspartner einige Dolchstöße versetzen will, was glücklicherweise dann doch nicht geschieht.
• Wenig später hält Ignatius am Montserrat vor dem Altar Unserer Lieben Frau vom Montserrat eine Nachtwache, in der er seine bisherigen Kleider ablegt und sein Schwert und seinen Dolch am Altar zurücklässt. Der »alte« Ignatius erinnert sich, wie ihn damals der spanische Ritterroman Amadís de Gaula, in dem der Held Esplandián eine solche Nachtwache vor dem Marienaltar hält, zu dieser Nachtwache inspirierte.
• Auch nach dem Studium und der Priesterweihe behält Maria eine wichtige Rolle im Leben des Ignatius: Das Vorhaben, mit seinen Gefährten ins Heilige Land zu gehen, scheitert, so dass man sich in Rom dem Papst zur Verfügung stellen will. In dieser Zeit bittet Ignatius Maria, sie möge bei ihrem Sohn die Gunst erwerben, ihn und die Gefährten in die Gemeinschaft mit Jesus hineinzunehmen. Er bittet, »sie möge ihn ihrem Sohn beigesellen« (BP 96). Diese Bitte erhält für Ignatius und seine Gefährten in einer ungewöhnlichen Vision einige Kilometer vor Rom in der Kapelle von La Storta eine Bestätigung. Ignatius, der nicht weiß, was ihn und seine Gefährten in Rom erwartet, spürt einen Umschwung in seiner Seele. Er sieht, »dass Gott, der Vater, ihn Christus, seinem Sohn, zugesellte, dass er nicht mehr daran zu zweifeln wagte, dass Gott, der Vater, ihn seinem Sohn zugesellte« (BP 96). Maria hat für Ignatius in den Fragen, wie er und seine Gefährten Christus nachfolgen sollen, eine »Vermittlerrolle«. Immer wieder legt er bei der Abfassung der Konstitutionen des jungen Ordens schwierige Fragen, wie etwa die Frage nach der konkreten Form der Armut im Orden, Gott, dem Vater, Christus und auch Maria vor.
Im Blick auf die Marienfrömmigkeit des Ignatius stellt sich die Frage, ob Ignatius insbesondere in der Zeit nach seiner Bekehrung eigentlich nur weltliche Ideale »umpolt« auf geistliche Inhalte hin. Aus der weltlichen Dame wird eine geistliche – Maria.5 Erscheint Maria, wie es so oft in der katholischen Kirche und ihrer männlich-klerikal dominierten Auslegungstradition der Fall ist, auch bei Ignatius als die »reine Magd«, als idealistische Überhöhung der Frau in ihrer Mutterrolle? Vor allen Dingen durch ihre Jungfrauengeburt wurde Maria als diejenige gesehen, die von Sexualität und Erotik befreit ist. Gilt dies auch für Ignatius, der sich durch Maria in seinem Wunsch nach einem keuschen Leben bestärkt weiß? Entsprechendes legen psychologische Deutungen der Biographie des Ignatius nahe: Ignatius verlor seine Mutter kurz nach der Geburt und wuchs in seinen ersten Lebensjahren bei einer Amme auf. Drückt sich in seiner Beziehung zur Mutter Gottes ein Verlangen nach Bindung und Wiedervereinigung mit der verlorenen Mutter aus, so dass aus der unerreichten, weil verstorbenen Mutter die unerreichbare, weil heilige Gottesmutter wurde?6
Biblische Frauengestalten wie Maria werden heute nicht mehr herangezogen, um eine untergeordnete Rolle der Frauen in der Kirche zu begründen. Nicht zuletzt durch die Befreiungstheologie wurde die Maria, die im Magnifikat Gott preist mit den Worten »er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen« (Lk 1,52) zur Gestalt der Befreiung. Soweit die getrennten Kirchen in Maria ihre gemeinsame israelitische Wurzel erkennen können, stellt Maria auch nicht mehr das kirchentrennende »Hindernis« schlechthin dar. In einem dramatischen Sinne als kirchentrennend erscheinen vielmehr das »Männerbündische« der katholischen Kirche und ihre männlich dominierten Machtstrukturen, weil, so Antje Vollmer, der Glaube von Frauen nicht entscheidend in die Strukturen und die Hierarchie der katholischen Kirche eingeht und als »gemeindegründend« verstanden wird. Der Glaube der Frauen sei zwar innig mit der Volksfrömmigkeit verbunden, aber er werde nicht als tragend und fundamental für die Kirche angesehen.7 Auf katholischer Seite hält Bettina Jarasch, Politikerin und Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, fest: »Wenn die Kirchenmänner nicht ernsthaft auch ihre Macht(erhaltungs)strukturen in Frage stellen, dann kommt die Kirche nicht aus der Vertrauenskrise heraus, in der sie seit Jahren steckt.«8 Kann Maria gegen eine »grässlich vermännlichte Kirche« (so Gisbert Greshake im Anschluss an ein Wort von Teilhard de Chardin) in Anschlag gebracht werden? Muss die Kirche als Ganzes marianischer werden, das heißt: weniger männlich-funktional und machtkonzentriert, sondern »bräutlicher« im Gegenüber zu Christus, kontemplativer und spiritueller, wie es (meist männliche) Theologen fordern?9 Oder werden auf diese Art und Weise doch wieder gesellschaftlich bedingte Rollenklischees weitergeführt?
Bei Ignatius finde ich bemerkenswert, dass er die Bedeutung Marias für ihn im Zusammenhang seiner eigenen persönlichen und geistlichen Entwicklungsgeschichte und somit auch im Zusammenhang von persönlicher Unreife thematisiert. Insbesondere die aggressiv-gewaltbereite Art und Weise, wie er sich gegenüber dem Mauren in der Frage nach der Jungfrauengeburt Marias verhält, zeigt Ignatius im Rückblick auf sein Leben, dass er in seinem Übereifer noch »blind war« und noch nicht wusste, »was Demut, Liebe und Geduld eigentlich waren« (BP 14). Die Frage nach der Jungfrauengeburt Marias wird für Ignatius zum Lehrstück über persönliche geistliche Unreife und mangelnde Fähigkeit zur Unterscheidung der Geister. Demut, Liebe und Geduld sind Haltungen, die auch dann nicht aufgegeben werden dürfen, wenn für uns die »kostbarsten« Inhalte des Glaubens auf dem Spiel stehen.