Voraussetzung für eine solche Form der Anerkennung und Wertschätzung ist zunächst, dass die Existenz eines intersubjektiv geteilten Wertehorizonts hinzugedacht wird, da sich Alter und Ego nur unter der Bedingung wertschätzen können, „dass sie die Orientierung an solchen Werten und Zielen teilen, die ihnen reziprok die Bedeutung oder den Beitrag ihrer persönlichen Eigenschaften für das Leben des jeweils anderen signalisieren“142. Der Unterschied zur rechtlichen Anerkennung, welche ein Medium darstellt, das die „allgemeinen Eigenschaften menschlicher Subjekte in differenzierender Weise zum Ausdruck bringt“, besteht darin, dass die soziale Anerkennung und Wertschätzung „Eigenschaftsdifferenzen zwischen menschlichen Subjekten auf allgemeine, nämlich intersubjektiv verbindliche Weise zum Ausdruck bringen können muss“143. Hierfür fungieren ethische Werte, deren Insgesamt das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft ausmacht, als Orientierungsrahmen, an dem sich der soziale Wert von Persönlichkeitseigenschaften bemisst. Gradmesser ist der Beitrag an der Verwirklichung gesellschaftlicher Zielvorgaben, welche vom kulturellen Selbstverständnis einer Gesellschaft vorgegeben werden. „[…] Fähigkeiten und Leistungen werden intersubjektiv danach beurteilt, in welchem Maße sie an der Umsetzung der kulturell definierten Werte mitwirken können; […].“144
Dadurch aber, dass soziale Wertschätzung und Anerkennung somit von den gesellschaftlich vorherrschenden ethischen Zielvorstellungen abhängig sind, sind Wertschätzung und Anerkennung geschichtlich variable Größen – worin sie der rechtlichen Anerkennung gleichen. „Ihre gesellschaftliche Reichweite und das Maß der Symmetrie hängen dann vom Grad der Pluralisierung des sozial definierten Werthorizonts ebenso ab wie vom Charakter der darin ausgezeichneten Persönlichkeitsideale. Je mehr die ethischen Zielvorstellungen für verschiedene Werte geöffnet sind und ihre hierarchische Anordnung einer horizontalen Konkurrenz gewichen ist, umso stärker wird die soziale Wertschätzung einen individualisierenden Zug annehmen und symmetrische Beziehungen schaffen können.“145
Honneth erläutert diese Annahmen am Beispiel des Wandels von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, am Wandel von Ehrbegriffen zu Kategorien des sozialen Ansehens oder Prestiges hin.146 So sei die Zielvorstellung der ständischen Gesellschaften substanziell gefasst und die Wertvorstellungen hierarchisch gegliedert gewesen, weswegen es auch eine Rangskala von mehr oder weniger wertvollen Verhaltensformen gegeben habe, deren Einhaltung zur Erlangung sozialer Ehre geführt habe. Er geht davon aus, dass die soziale Ehre auch jedem Gesellschaftsmitglied, das zu einem bestimmten gesellschaftlichen Kreis gehören will, eine spezifische Form der Lebensführung vorgibt. Die Charakteristika, anhand derer sich die gesellschaftliche Bewertung einer Person orientiert, sind daher nicht die eines individuierten Subjekts, sondern die einer „kulturell typisierten Statusgruppe“147. Dadurch ergibt sich einerseits eine nach außen hin asymmetrische und nach innen hin hoch symmetrische Gliederung der Anerkennungsformen innerhalb einer Gesellschaft und andererseits die Tendenz von sozialen Gruppen ihre Standesmerkmale gegenüber Nichtangehörigen abzuschließen, um das eigene Sozialprestige dauerhaft zu monopolisieren.148 Diese ständischen Gesellschaftsgliederungen verdanken ihre Überzeugungskraft religiösen oder metaphysischen Überlieferungen und waren daher „als eine metasoziale Bezugsgröße im kulturellen Selbstverständnis verankert“149. Sobald diese Überlieferungen allerdings hinterfragt wurden, änderte sich auch das Verständnis von der gesellschaftlichen Wertordnung dahingehend, dass die ständische Gesellschaftsgliederung ihrer transzendenten Evidenzbasis verlustig ging und somit nicht länger als objektiv und unveränderlich angesehen werden konnte. Die Auseinandersetzung des aufkommenden Bürgertums mit der feudalen Gesellschaft stellt also nicht den Versuch der Implementierung einer neuen Wertordnung in die Gesellschaft, sondern die Auseinandersetzung um den Status solcher Wertprinzipien überhaupt dar: Das soziale Ansehen einer Person wird nun nicht mehr anhand der ihrer sozialen Gruppe zugeschriebenen Eigenschaften bemessen, vielmehr „tritt das Subjekt als eine lebensgeschichtlich individuierte Größe in das umkämpfte Feld der sozialen Wertschätzung ein. Ein nicht unbeträchtlicher Teil dessen, was bislang dem einzelnen über ständisch gestaffelte Ehrprinzipien an sozialer Wertschätzung zugesichert war, wandert im Zuge der geschilderten Umbrüche in das neuformierte Rechtsverhältnis ein, wo es im Begriff der ‚menschlichen Würde‘ zu universaler Geltung gelangt“150.
Soziale Anerkennung bzw. das Ziel ethischer Lebensführung wird nun nicht mehr von vornherein als kollektive Eigenschaft festgelegt, sondern orientiert sich an individuell entwickelten Fähigkeiten des Einzelnen, d. h., dass in dieser dritten Anerkennungssphäre das Leistungsprinzip eine entscheidende Rolle spielt. Über die im kulturellen Wertesystem erbrachte Leistung wird dem Subjekt ein unterschiedliches Maß sozialer Wertschätzung zuteil, womit unzählige Möglichkeiten für Anerkennungskämpfe eingelassen sind.151
Dies bedeutet aber auch, dass die soziale Wertschätzung und Anerkennung in modernen Gesellschaften einem permanenten Kampf unterliegen, „in dem die verschiedenen Gruppen mit den Mitteln symbolischer Gewalt versuchen, unter Bezug auf die allgemeinen Zielsetzungen den Wert der mit ihrer Lebensweise verknüpften Fähigkeiten anzuheben.“152 Der Wert dieser Fähigkeiten findet seinen Niederschlag dabei gesellschaftlich vor allem durch Geldeinkommen, weswegen von einer engen Verknüpfung mit ökonomischen Auseinandersetzungen konstitutiv erscheint.
Trotz der in diesem Anerkennungsverhältnis angelegten Konflikte erscheint für Honneth ein symmetrisches Anerkennungsverhältnis möglich und zwar über den Weg der Solidarität. Symmetrische Wertschätzung oder Anerkennung bedeutet in diesem Kontext affektive Anteilnahme an dem individuell Besonderen der anderen Person zu wecken. Symmetrisch ist das Anerkennungsverhältnis nicht in dem Sinne, dass sich Individuen wechselseitig in gleichem Maße wertschätzen müsse, was „schon aus der prinzipiellen Deutungsoffenheit aller gesellschaftlichen Werthorizonte hervor[geht | BK]: es ist schlechterdings keine kollektive Zielsetzung vorstellbar, die in sich quantitativ so zu fixieren wäre, dass sie einen exakten Vergleich zwischen dem Wert der einzelnen Beiträge gestatten würde; symmetrisch muss vielmehr heißen, dass jedes Subjekt ohne kollektive Abstufungen die Chance erhält, sich in seinen eigenen Leistungen und Fähigkeiten als wertvoll für die Gesellschaft zu erfahren“153.
Es handelt sich bei dieser dritten Anerkennungsform der solidarischen Zustimmung also weniger um den Respekt vor einer singulären Leistung oder einer besonderen Individualisierung, sondern um ethische Werte und Ziele im Rahmen eines gemeinsamen Werthorizontes. „Der fundamentale Unterschied besteht in der Offenheit der Wertschätzung für die Pluralität der Persönlichkeitsideale, wie sie in komplexen Gesellschaften auftreten. […] Die Intersubjektivität der Anerkennung wird von dieser sozialen Wertschätzung dahingehend überschritten, dass sie nicht allein an die Wechselseitigkeit zwischen Individuen gebunden ist, sondern vor allem an dem vom Kollektiv vorgegebenen Bezugssystem orientiert ist.“154
2.2.4 Anerkennung als Haltung
In neueren Publikationen hat Honneth seine Theorie in Teilen modifiziert bzw. neu justiert.155 Diese Modifikation betrifft u. a. die Frage, ob Anerkennen eine Erkenntnisleistung oder eine davon zu unterscheidende Haltung darstellt.156 Während in Honneths „Kampf um Anerkennung“ eine „empirische Situationsdeutung“157 darüber informiert, ob ein Gegenüber anzuerkennen ist, so wird im weiteren Verlauf der Theorieentwicklung das Erkennen als dem Anerkennen nachgeordnet gedeutet. Da „der Akt der Anerkennung […] die expressive Bekundung einer individuellen Dezentrierung, die wir angesichts des Wertes einer Person vollziehen“158, darstellt, „scheint die bloß kognitive Identifikation eines Menschen ihren geradezu natürlichen Vorrang vor der Anerkennung zu verlieren; […]. Der Vorrangigkeit der Anerkennung entspricht in unserer sozialen Lebensform der herausgehobene Stellenwert jener Gesten und Gebärden, mit denen wir uns untereinander im allgemeinen die motivationale Bereitschaft bekunden, unser Handeln an der moralischen Autorität des Anderen zu orientieren“159.
Bedorf