Zunächst darin, dass die Vermögens- und Unternehmenseinkommen stärker steigen als die Arbeitseinkommen, während entsprechend der prozentuale Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen zurückgeht und eine wachsende Schieflage entsteht (Bach, 2016a).
Nachdenklich stimmen sollte sodann die Frage der „Supersalaries“, d. h. überzogen hoher Spitzeneinkommen: Bei DAX-Konzernen beträgt die Spanne zwischen dem Einkommen des Vorstandsvorsitzenden und dem Durchschnittseinkommen je nach Berechnung 147: 1 oder 167: 1, was deutlich unter Vergleichswerten im angelsächsischen Raum liegt. Und: Ein Spitzeneinkommen wie einst die 17,5 Millionen Euro eines Martin Winterkorn (Ratio etwa 350: 1) wurde seinerzeit sogar von Gewerkschaftern, etwa im Hinblick auf Verdienste von Fußballern und Popstars, verteidigt.
Weitere Ungleichheit offenbart sich, wenn man die Summe aus allen sieben Einkunftsarten betrachtet, d. h. nicht nur ‚verdientes‘ Einkommen aus Arbeit, sondern auch ‚unverdientes‘ Einkommen aus Mieten, Kapital oder Grundbesitz. Während Arbeitseinkommen in aller Regel gegenüber der Steuerbehörde transparent sind und wenig Optionen für Steuervermeidung bestehen, gilt dies nicht für hohe Einkommen aus anderen Quellen, die zudem erfolgreich verschleiert und über Trusts oder Stiftungen versteckt werden können, d. h., hier weiß selbst die Steuerbehörde nicht, um welche Beträge es sich wirklich handelt. „Geleakte“ CDs, Offshore oder Swiss Leaks ergeben allerdings Anhaltspunkte, dass im Ausland versteckte Vermögen und daraus erwachsende Einkünfte beachtlich sind.
Ferner darf man nicht vergessen, dass es in Deutschland einen beachtlichen Sektor „atypischer“ Beschäftigungsverhältnisse gibt, in dem Menschen zu unterdurchschnittlichen Bedingungen beschäftigt werden. Laut OECD umfasst dieser Sektor in Deutschland 2013 fast 40 % aller Arbeitsverhältnisse und die Bezahlung der dort Beschäftigten liegt nur bei 56 % dessen, was in „typischen“ Beschäftigungen gezahlt wird (OECD, 2015b). Dort arbeiten etwa Menschen, deren Arbeitseinkommen zu einer angemessenen Lebensführung nicht ausreicht, weshalb es aus Steuermitteln aufgestockt werden muss („Aufstocker“, Kombilohn). Diese Zustände bewegen Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften dazu, auch in Deutschland von der Existenz der „working poor“ zu sprechen.
Last, not least: Die Armutsdiskussion bezieht sich i. d. R. auf die Armutsrisikoquote, d. h. auf jene, die 60 % und weniger des „bedarfsgewichteten Nettoäquivalenzeinkommens“9 beziehen. Diese lag 2008 bei
14,4 % und stieg seither kontinuierlich auf 16,7 % (2015). Dabei handelt es sich aber lediglich um jene, deren finanzielle Situation statistisch korrekt erfasst ist. Es gibt aber eine beachtliche Zahl an ärmeren Menschen, die aus verschiedenen Gründen statistisch nicht korrekt im Blick sind: Arme, die sich aus Scham oder Unkenntnis nicht offenbaren wollen, Obdachlose, chronisch Kranke, Drogenabhängige und Zigtausende von legal und illegal in Deutschland lebenden Nicht-Deutschen. Dies wird gerne ignoriert. Wer aber mit offenen Augen durch die Großstädte geht, wird zugeben müssen, dass Armut deutlich sichtbarer geworden ist („Flaschensammler“, auf U-Bahn-Abluftschächten schlafende Obdachlose, Straßenkinder …), als es vor Jahrzehnten noch der Fall war.
Nun aber zum eigentlichen, zugleich hochkomplexen Problem für Deutschland: die Vermögensungleichheit. Beträgt die Einkommenskonzentration bei dem obersten Dezil der Bevölkerung je nach Statistik zwischen 24–36 %, so liegt sie bei Vermögen bei nahezu 60 %. Laut der aktuellsten Erhebung (Deutsche Bundesbank, 2016a) beträgt das Netto-Durchschnittsvermögen 214.500 Euro, das Netto-Medianvermögen 60.400 Euro. Daraus errechnet die Bundesbank einen Gini-Koeffizient von 0,76, was Deutschland im Ländervergleich einen zweiten Platz hinter den USA mit 0,8 einbringt. Man sollte aber solche Zahlen nicht isoliert betrachten. Nur ein Beispiel: Zur Zeit der Eurokrise machte die Nachricht Schlagzeilen, dass der ‚Durchschnittsgrieche‘ deutlich vermögender ist als der Deutsche. Das liegt an der Bemessungs- und Vergleichsbasis, etwa dass das Häuschen und die Parzelle des Griechen bewertet wurden, während viele Deutsche in Mietwohnungen leben. Oder dass deutsche Altersversorgungsund Versicherungsansprüche nicht eingeflossen sind.10
Wie groß die Vermögensungleichheit in Deutschland tatsächlich ist, ist schwer zu sagen. Auf Steuerdaten beruhende Auswertungen existieren kaum. Im Mikrozensus oder in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe sind Haushalte mit hohem Einkommen nicht repräsentativ vertreten. Stichproben bzw. Umfragen, die versuchen, dieses Defizit gezielt auszugleichen, sind noch relativ neu und erlauben noch keine längeren Zeitvergleiche. Auf Interviews beruhende Angaben wiederum haben den Nachteil, dass die Teilnahme freiwillig ist und Angaben fehlen oder vergessen werden können. Sodann beeinflussen die Zusammensetzung des Vermögensportfolios, variierende Markt- und Börsenpreise sowie Währungsschwankungen jegliche Bewertung: Für das Jahr 2014 berichtete etwa der Reichtumsbericht der Credit Suisse, dass die europäischen Vermögen aufgrund des Wechselkurses zwischen Euro und Dollar gesunken sind und allein in Deutschland Werte in Höhe von insgesamt 500 Milliarden Dollar verloren gingen (Credit Suisse, 2015, S. 8). Für das gleiche Jahr meldet das Manager Magazin: „Vor allem dank hoher Unternehmensgewinne und dem anhaltenden Boom am Immobilienmarkt ist das Vermögen der reichsten 100 Deutschen trotz der jüngsten Börsenturbulenzen … um 7 Prozent auf insgesamt 427,7 Milliarden Euro gewachsen. … Um es unter die 100 reichsten Deutschen zu schaffen, war 2015 erstmals ein Vermögen von 1,5 Milliarden Euro nötig. 2005 hatten bereits 800 Millionen genügt“ (Manager Magazin Sonderheft, 2015).
Wie auch immer: Auch dies wäre hinnehmbar, wenn es gut um die Einkommens- bzw. soziale Mobilität bestellt wäre, d. h., dass sich jemand aus einer einkommensmäßig sozial schlechteren Position verbessern kann. Die Zulassung eines Niedriglohnsektors wurde beispielsweise einst damit begründet, dass er den Einstieg in besser bezahlte Jobs erleichtern würde. Ob dies erreicht wird, ist hoch umstritten. Zahlen legen eher nahe, dass dort Beschäftigte vom insgesamt-durchschnittlich wachsenden Wohlstand in Deutschland dauerhaft abgehängt sind und nicht (angemessen) profitieren. Auch gesellschaftliche Mobilität insgesamt scheint abzunehmen. Die OECD stellt fest, dass zunehmend die Geburt über den Platz eines Kindes bestimmt und die Bedeutung anderer Faktoren (z. B. Bildung) abnimmt (OECD, 2015a + b). Dies stellt die Frage nach der Leistungsfähigkeit der sozialen Umverteilung: Diese, so die OECD in ihren Untersuchungen 2011 und 2015, ist in Deutschland jedoch seit längerem sinkend. Parallel dazu schottet sich das Milieu der Superreichen zunehmend vom Rest der Gesellschaft ab, während sie zugleich durchaus Einfluss auf Entscheidungen nehmen, die alle betreffen und die deshalb demokratischen Aushandlungsprozessen überlassen sein sollten. So droht eine gesellschaftliche Schichtung, Polarisierung und Ungleichgewichtung im gesellschaftlichen Miteinander und damit Gefahr für den sozialen Zusammenhalt und Frieden.
Höchst bemerkenswert ist noch Folgendes: Nimmt man die Entwicklung der alten Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung, so ist diese von hoher Einkommensmobilität und sinkender Vermögensungleichheit geprägt, ein Trend, der von Piketty auch für andere Staaten im Europa nach dem Zweiten Weltkrieg belegt wird. Verschlechterungen treten nach der Wiedervereinigung ein, die zugleich den Rahmen für ‚Reformen‘ im Sinne von „Thatcherismus“ und „Reaganomics“ bot (Hauser, 2003).
4.2 Staatsverschuldung
Die Forscher in allen drei Ländern dieser Studie beschäftigte die Frage der öffentlichen Schulden, was in Deutschland komplex ist aufgrund gesonderter ‚Verschuldungsmöglichkeiten‘ für Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen. Die Gesamtverschuldung lag 2014 bei 2,05 Billionen Euro. Als besonders problematisch werden dabei die Anstiege infolge der schuldenfinanzierten Kosten der deutschen Wiedervereinigung, der Weltfinanzkrise 2007 und der nachfolgenden Eurokrise gesehen. Natürlich kann es Situationen geben, wo schnell gehandelt werden muss und nicht erst neue „Lastenausgleichsgesetze“ diskutiert werden können. Aber: Muss das so bleiben, vor allem, wenn man fragt, wer denn von diesen Ausgaben am meisten profitiert hat?
Wenn