Der Freund
In der Vorsorgevollmacht meines Freundes stand, dass ihm ein Rabbi beistehen solle, wenn er stirbt. Er hatte sich eine Überdosis Kokain gespritzt, sein Assistent fand ihn leblos. Es gelang den Rettungssanitätern, ihn wiederzubeleben. Sein Gehirn blieb acht Minuten lang ohne Sauerstoffversorgung. Keine Möglichkeit mehr.
Ich besuche ihn im Jüdischen Krankenhaus. Er scheint zu lächeln. Er sieht friedlich aus. Sein Körper verkrampft sich alle paar Minuten, was lebendig wirkt, aber – so die Schwester – nur die Folge des Elektroschocks bei der Wiederbelebung sei. Seine Hände sind kalt.
Seine Freundin hatte mir die Nummer des Rabbiners gegeben. Ich erklärte ihm am Telefon, was in der Vorsorgevollmacht steht.
»Ist Ihr Freund gläubig? Ich habe mir auf seiner Website seine Fotografien angesehen. Sonderlich gläubig wirkte das nicht.«
»Ja, das stimmt. Es ist kompliziert. Er hatte in der Reha in Beelitz eine Mesusa an den Türrahmen geklebt und eine riesige Israelfahne in seinem Krankenzimmer aufgehängt. Er setzt sich in seinem Werk mit dem Umstand auseinander, Jude in Deutschland zu sein. Wenn auch eher punkmäßig.«
»Eben.«
»Er will in Israel begraben werden …«
»Gut, wir machen einen Termin. Wann soll ich kommen? Aber es darf kein Gerät abgeschaltet werden.« Die Intensivstation: Ich hatte diese Stationen immer als einen Zwischenraum begriffen. Es weht etwas Unbegreifliches hinein. Die Kakophonie der Überwachungsgeräte: EKG, Blutdrucküberwachung, Sauerstoffsättigung des Blutes. Die Patienten mit ihren Atemmasken und dem Gesichtsausdruck, von dem man sagt, er wirke friedlich. Schweigende und ratlose Angehörige.
Da hinein betet der Rabbi das Sündenbekenntnis in hebräischer Sprache. Es schafft Frieden. Es ist traurig und ich fühle mich getragen. Ich schließe die Augen und halte eine Hand meines Freundes. Ich bete für ihn, dass er aufgenommen werde in die Herrlichkeit des Herrn.
Der Rabbi steigt auf seine Vespa und fährt weg. Drei Tage später stirbt mein Freund. Wir mussten keine Geräte abschalten.
Wir begraben ihn ein paar Tage später in der Sharonebene. Ich soll ihn in der Totenhalle des Friedhofs identifizieren. Der deutsche Sarg steht aufgehebelt und nutzlos geworden neben der Halle in der Augusthitze. Der Rabbi entfernt das dunkelblaue Tuch mit dem aufgestickten weißen Davidstern. Er öffnet behutsam das darunterliegende weiße Leinen. Ich nicke und unterschreibe.
Ein kurzer Trauergottesdienst unter freiem Himmel in der Sonne, die Gedächtnisrede des Rabbiners. Zwei Freunde schließen sich an.
Der Rabbi legt den Körper ins Grab. Alle zusammen schaufeln das Grab mit rotbrauner Erde zu. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden. Auch die Kinder schaufeln mit. Ihn Gott überantworten. Psalm 16: … auch mein Fleisch wird wohnen in Sicherheit. Frieden. Ewigkeit.
S.P., Rechtsanwalt, getauft mit 44 Jahren
Über den Bruchgraben
Als Kind ließ mich das Bildnis von Pastor Bissendorf über seinem im Altarraum beigesetzten Leichnam in unserer Dorfkirche erschauern. Als evangelischer Pastor war er wegen seiner protestantischen Streitschriften 1629 unweit von Hildesheim zum Tode verurteilt worden. Die Grenze zwischen katholischen und evangelischen Dörfern verlief am Rande unserer Feldmark am Bruchgraben – einem mehr stehenden als fließendem Gewässer. Aus der Ferne sah ich Kreuze zwischen den Feldern stehen. In meinem Freundeskreis waren kaum Katholiken.
Am Ende des Studiums lernte ich meinen Mann kennen und lieben. Wir beschlossen zu heiraten. In dieser Zeit verstarb mein zukünftiger Schwiegervater, und so führte es dazu, dass mein Mann beim Trauergespräch für seinen Vater in seiner elterlichen Heimatgemeinde in Berlin-Spandau dem katholischen Geistlichen auch erklärte, dass er mich als evangelische Christin gedenke zu heiraten. Ich erinnere mich an ein auszufüllendes Formular, welches uns dazu verpflichtete, mögliche Kinder perspektivisch katholisch zu erziehen. Ich empfand es als befremdlich.
In meinem Mann wuchs der Wunsch, wieder aktiver seinen Glauben zu leben. Er fand Trost und Verständnis in Gesprächen in der »Glaubens- und Lebensschule St. Ignatius – GLS«. Ich realisierte, dass ich beabsichtigte, einen »echten Katholiken« zu heiraten.
Unser Hochzeitstermin stand, es fand eine ökumenische Trauung in meiner Heimatkirche statt. Die Worte und die Segnung des sehr herzlichen katholischen Geistlichen mit dem schönen Nachnamen Sorge berührten Herz und Verstand. In der Folge gingen mein Mann und ich einige Jahre regelmäßig zum »Abend für die Ehe« nach St. Canisius, nahmen uns Zeit für Inspiration und Gespräch. Ich sang und fühlte erstmals »Laudate omnes gentes«.
Unsere Kinder kamen. Sie wurden katholisch getauft, besuchten katholische Kindergärten, eine katholische Grundschule und katholische Oberschulen. Wir besuchten regelmäßig den Gottesdienst, und die Familien unseres Berliner Freundeskreises waren plötzlich alle katholisch.
Vor der ersten heiligen Kommunion unserer Tochter lud der Pfarrer bewusst alle Elternteile zur Eucharistiefeier ein. Ich nahm erstmals teil und erlebte den Unterschied. Fünf Jahre darauf näherte sich die Erstkommunion unseres Sohnes. Ich beschloss, auch den äußeren, formellen Schritt zu gehen. Ich klärte Gedanken, erhielt fundierte Antworten auf offene Fragen sowie Trost in persönlichen Gesprächen als auch im Konversionskurs. In dieser Zeit war ich auch durch den Abschied von meinen Eltern erschüttert und belastet.
Gemeinsame Gottesdienstbesuche mit der ganzen Familie sind nun seltener geworden. Doch egal wo – in der Berliner Gemeindevielfalt, im Hildesheimer Dom, in Dorfkirchen und an jedem anderen Ort, an dem ich Gottes Nähe spüre – bin ich dankbar für diesen Lebensweg, der mich über den Bruchgraben führte: »Laudate omnes gentes«.
Annette, Berufsschullehrerin, konvertiert mit 46 Jahren
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