Der Satz von Henri de Lubac eröffnet nicht nur einen Weg, er lädt auch ein, sich zu erinnern. An Brennpunkte in der großen und der persönlichen Geschichte des Glaubens, wo an die Stelle eines alten ein neues Denksystem getreten ist. Und schließlich auch Gott neu gedacht werden musste – und konnte! Vielleicht zum ersten Mal, als die Christen ihren „Gott Abrahams, lsaaks und Jakobs“ in der hellenistischen Kultur zur Sprache bringen mussten – als den göttlichen Urgrund, der freilich im Licht des Glaubens immer mehr zum lebendigen Gott wurde. Zu denken ist aber auch an Thomas von Aquin, der Gott in den Koordinaten der aristotelischen Metaphysik gedacht hat. Und heute ist es das Denksystem der modernen empirischen Wissenschaften, besonders der Naturwissenschaften, das uns prägt. Hier scheinen noch nicht alle Herausforderungen bewältigt. Die engagiert geführten Debatten zu den Themen „Monotheismus“ und „Panentheismus“ belegen es ebenso wie die unverkennbare Anziehungskraft fernöstlicher Gottes-Vorstellungen gerade auch bei spirituell Interessierten. Und schnell entsteht ausgesprochen oder unausgesprochen der Eindruck, dass beim Versuch, Gott auf neue Weise zu denken, der persönliche Gott verloren geht. Auf jeden Fall ist eine neue Aktualität der negativen Theologie unverkennbar: Gott, der kein Teil unserer Welt ist, sondern ihr Ursprung. Namenlos anwesendes heiliges Geheimnis – so hat ihn Karl Rahner genannt. Und wichtige Stimmen mahnen zu Recht die Mühe ein, den Gott, an den wir glauben, in unserem Weltbild angemessen zu denken – für uns und andere, denen wir Auskunft schulden.
Aber – so muss man hier wohl fragen – ist nicht auch in manchem heutigen Gott-Denken Gott verlorengegangen? Ist er nicht entschwunden in die Ferne abstraktester Gedanken? Wird dabei nicht die intellektuelle Respektabilität um den Preis religiöser Blutleere erkauft? Wo ist der lebendige und nahe Gott, der „Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“? Freilich darf man an dieser Stelle nicht vorschnell polemisch werden. Schon das ipse esse subsistens, womit Thomas von Aquin Gott metaphysisch gedacht hat, hätte Anlass zu solchen Fragen gegeben. Vielleicht kann man mit einem Vergleich einen Weg bahnen: Wir sprechen von der Sonne und dass sie auf- und untergeht. Und vieles kann in einem solchen Satz mitschwingen. Er ist unverzichtbar und kann nicht einfach durch eine wissenschaftliche Auskunft ersetzt werden, auch wenn wir wissen, dass sich nicht die Sonne um die Erde, sondern die Erde um die Sonne bewegt. Und so kann und darf es neben dem abstrakten Gott-Denken innerhalb eines heutigen Denksystems auch die einfache Sprache des Glaubens geben: „Vater unser im Himmel (…)“. Mit Vertrauen, Dankbarkeit, ja mit Zuneigung gesprochen. Dass Gott immer größer ist als unser philosophisch aufwendiges und unser einfaches Sprechen über ihn, dieses Wissen hält alles zusammen. Und dieser je größere Gott geht nicht verloren.
Klaus Mertes SJ | St. Blasien
geb. 1954
Direktor des Kollegs St. Blasien
Zorn, Zorn und Zorn
Ich kenne beides: Meinen eigenen Zorn auf andere Menschen und den Zorn anderer Menschen auf mich. Ein Gott, der erhaben über den zwischen mir und anderen hin- und herwogenden Zorneswellen thront; der den Zorn aus einer unbeteiligten Position heraus moralisiert; ein apathischer Gott ohne inneres Verständnis für Zorn, für die Wucht des Zornes, für seine Größe und auch für seine Würde – ein solcher Gott scheint mir nur eine Projektion aus der Perspektive der Not zu sein, die Zorn für die Person, die solchen erleidet, meist auch noch bedeutet. Ich schließe mich deswegen dem Projekt des Abschiedes vom Zorn Gottes nicht an. Vielmehr setze ich darauf, dass sich Zorn verwandeln lässt in etwas noch Größeres, nämlich Liebe, und dass genau diese Verwandlungskraft göttlich ist.
I.
„Und er sah sie der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz.“ Das Nebeneinander von Zorn und Trauer lässt mich aufhorchen. Die Begriffe stehen nicht nur nebeneinander, sondern erhellen sich gegenseitig. Zunächst zur Szene (Mk 3,1–6): Ein Mann mit einer verdorrten Hand sitzt schon seit vielen Jahren am Eingang der Synagoge in Kafarnaum. Da Sabbat ist, sind Fromme in der Synagoge zusammengekommen. Einige von ihnen haben allerdings weniger das Gebet und die Tora-Lesung im Sinn als vielmehr die Frage, ob „er“, also Jesus, den Mann mit der verdorrten Hand trotz des Arbeitsverbotes am Sabbat heilen würde.
Hier wird der erste Anlass zum Zorn deutlich: Die Aufmerksamkeit der „Schriftgelehrten und Pharisäer“ ist strategisch auf die möglichen Regelübertretungen Jesu statt auf das Leiden des Mannes mit der verdorrten Hand gerichtet. Dieser Empathie-Mangel der Aufpasser macht zornig. Überzogene Sündensensibilität bei gleichzeitig unterentwickelter Leidsensibilität sind zwei Seiten einer Medaille. Jesus wird diese Verkehrung der Prioritäten gleich mit der Frage konfrontieren: „Was ist am Sabbat erlaubt, ein Leben zu retten oder es zu vernichten?“ Was ist schlimmer – aus Sensibilität für das Leiden eines Menschen eine (in sich vielleicht durchaus sinnvolle) Regel zu übertreten, oder sich aus Angst vor der Regelübertretung der Empathie zu verschließen? Ich höre in der Frage Jesu Zorn heraus. Er hängt mit der Empathie für das Leid des Mannes am Eingang der Synagoge zusammen. Ich habe kein Problem damit, mir diesen Zorn auch im Einklang mit dem Zorn Gottes vorzustellen, sofern dieser ebenfalls aus der Empathie kommt: „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört (…). Ich bin herabgestiegen.“ (Ex 3,7 f.) Empathie ist die Quelle eines Zorns, wie ich ihn schätze. Ich habe ein Problem mit Menschen, die das Leiden anderer kalt lässt. Ich hätte dasselbe Problem auch mit Gott.
Es folgt die Aufforderung Jesu an den Mann mit der verdorrten Hand: „Steh auf und stell dich in die Mitte!“ Damit wird der Blick aller Anwesenden auf den leidenden Menschen gerichtet. Es folgt die Frage Jesu nach der richtigen Priorität zwischen Empathie und Regelkonformität. Sie verhallt unbeantwortet: „Sie aber schwiegen.“ Und dann: „Und er sah sie der Reihe nach an, voll Zorn und Trauer über ihr verstocktes Herz.“ Die Trauer gesellt sich zum Zorn. Warum? Ich meine: wegen des Schweigens. Jesus gerät an eine Grenze, die er nicht überwinden kann. Das steinerne Schweigen richtet sich gegen ihn. Es macht ohnmächtig. Es geht in diesem stummen Kampf der Blicke nicht um Lappalien. Das zeigt der letzte Satz der Perikope: „Da (…) fassten [sie] zusammen (…) den Beschluss, Jesus umzubringen.“
Der Zorn hat also – idealtypisch gesprochen – neben der Empathie mit Leiden (= Empathie-Zorn) eine zweite Quelle: Zorn aus einer Ohnmachtserfahrung heraus (= Ohnmachts-Zorn). Ohnmachts-Zorn kann sich zu Hass steigern, wenn die Ohnmachtssituation nicht konstruktiv bewältigt wird. Hass ist altgewordener Ohnmachts-Zorn (Cicero: ira inveterata), ein Dauerzustand in der menschlichen Seele, mal unter der Asche glimmend, mal plötzlich und unberechenbar auflodernd, im allerschlimmsten Fall kalt und heiß zugleich, planend, racheschmiedend, ideologisch überhöht. Theologisch projiziert, verengt Hass den Blick auf einen „Gott“ hin, dem angeblich nichts wichtiger ist als den/die Sünder(in) zu bestrafen, um vom eigenen Ohnmachts-Zorn herunterzukommen. Ohnmachts-Zorn überlagert Empathie-Zorn: Die Fähigkeit zur Empathie geht verloren. Die andere Person, die andere Gruppe, die andere Nation, die andere Konfession verliert ihren Anspruch auf Empathie. So kann man dann im Namen angeblicher Gerechtigkeit, im Namen der eigenen Nation