Diese Definition sagt zunächst nichts über den Wandel von Religiosität aus, wohl aber lassen sich – wiederum mit Bezug auf Chris Hermans – fünf mit der Globalisierung verbundene gesellschaftlich-kulturelle Dynamiken nennen, die Konsequenzen auf das religiöse Feld haben und die Religiosität heutiger Jugendlicher beeinflussen:
Deinstitutionalisierung: Immer weniger richten die Menschen ihr Verhalten nach den Vorgaben einer Institution aus, wodurch deren Einfluss zunehmend sinkt. Dies gilt auch für die Institution Kirche, deren Glaubensüberzeugung und Lehre allgemein nicht mehr als sozial verbindlich betrachtet werden. Gerade in der Phase der Adoleszenz, die auch entwicklungspsychologisch mit der Infragestellung von Institutionen verbunden ist, schwindet die kirchliche Bindung beträchtlich, was Chance und Pflicht zugleich bedeutet: Weil „Institutionen nicht mehr die Verantwortung für individuelle Lebensentwürfe übernehmen können“7, dürfen und müssen Jugendliche dies selbst tun.
Detraditionalisierung: Durch die Entgrenzung von Räumen und den Einfluss anderer Kulturen verliert die Überlieferung eigener Traditionen an Verbindlichkeit. Dies birgt Chancen, da fremde Traditionen als individuell bedeutsam und bereichernd erfahren und in das eigene Selbstbild integriert werden können. Die Kehrseite der Medaille besteht jedoch in einem Verlust an Sicherheit und Orientierung, da es keine Tradition mehr gibt, der man sich fraglos anschließen kann; stattdessen wird jede Tradition – auch die eigene – auf ihre Plausibilität befragt.8
Pluralisierung: Mehr denn je kommen Menschen heute in Kontakt mit Traditionen aus nicht-christlichen Kulturkreisen, was ebenfalls Chance und Gefahr zugleich ist: Zum einen bietet der Kontakt mit fremden Kulturen und Traditionen die Möglichkeit eines Rückgriffs „auf ein Maximum verschiedener Identitätsmuster“9, zum anderen „relativiert Pluralität durch den Wegfall gültiger Orientierungspunkte die eigene religiöse und kulturelle Beheimatung“10.
Individualisierung: Die Frage nach der eigenen Identität stellt sich heute in nie da gewesener Schärfe, da die Verbindlichkeit von Lebens- und Wertoptionen sinkt und es eine unüberschaubare Auswahl an Weltanschauungen und Wertesystemen gibt, aus denen sich jeder einen „eigenen Sinn-Cocktail“11 herstellt. Dies bietet die Möglichkeit, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und individuelle Wünsche zu realisieren; zugleich wird eine individuelle Lebensgestaltung von jedem erwartet: „Der Mensch ist in diesem pluralen Gefüge von Deutungsmustern ein zur Suche und Selbstbestimmung Verdammter!“12 – ein Anspruch, der zur Überforderung werden kann.
Homogenisierung: Der Wunsch nach Zugehörigkeit führt auf unterschiedlichsten Gebieten zur Homogenisierung, was sich in besonderen ‚Trends‘ – etwa in Bezug auf Kleidung oder Musik – äußert. Das Anschließen an solche Trends stärkt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und die Abgrenzung zu Außenstehenden. Auch im religiösen Bereich gibt es solche einheitsstiftenden Phänomene, wozu etwa Weltjugendtage und die erlebte Gemeinschaft in Taizé gehören.13
Diese fünf Dynamiken überlappen einander und bedingen sich gegenseitig. Für die nachfolgenden Überlegungen zentral sind vor allem die Individualisierung und die Pluralisierung14, da diese fundamental die Religiosität heutiger Jugendlicher betreffen.
Welchen Einfluss diese allgemein gesellschaftlichen Prozesse für gegenwärtig aufwachsende Kinder und Jugendliche haben, haben die deutschen Bischöfe 2005 in ihrem Dokument „Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen“ realistisch beschrieben. Darin nehmen sie die „veränderte religiöse Situation der Kinder und Jugendlichen“15 gezielt in den Blick. Unumwunden konstatieren sie, dass eine wachsende Zahl Heranwachsender „kaum noch Erfahrungen mit gelebtem Glauben“16 macht, dass in der familiären religiösen Erziehung der Kinder und Jugendlichen „Glaubensunsicherheiten und religiöse Sprachlosigkeit eine wichtige Rolle spielen“17 und es eine gesellschaftlich „weit verbreitete Distanz zu Glaube und Kirche“18 gibt. Was den Kontakt zur Gemeinde betrifft, so wissen die Bischöfe darum, dass dieser bei den meisten Kindern und Jugendlichen nur punktuell stattfindet und somit „der Religionsunterricht in der Schule der wichtigste Ort der Begegnung mit dem christlichen Glauben“19 ist. Zugleich nehmen sie gesellschaftliche Prozesse einer religiösen Pluralisierung und Subjektivierung wahr, mit Heranwachsende konfrontiert werden.20
Dass diese von den Bischöfen nur skizzenhaft dargestellten gesellschaftlichen Phänomene eine durchaus realistische Einschätzung der Gegenwartssituation darstellen, lässt sich mittels aktueller empirischer Studien belegen und systematisieren. Drei miteinander in Beziehung stehenden Phänomenen soll hier näher Beachtung geschenkt werden: den Merkmalen der Religiosität im Jugendalter, dem Verhältnis von Jugend und Kirche und schließlich der religiösen Sprache Jugendlicher.
2. Die gewandelte Religiosität der Jugendlichen
Rahmendaten zur Religiosität heutiger Heranwachsender bieten die Shell-Jugendstudien, die seit 1953 in unregelmäßigen Abständen erscheinen und Auskunft geben über Stimmungen, Haltungen und Einstellungen Jugendlicher. Die 15. Shell-Studie von 2006, die sich intensiv mit jugendlicher Religiosität beschäftigt, kommt zu dem Ergebnis, dass etwa die Hälfte aller Jugendlichen im Alter von zwölf bis 25 Jahren religiös im weiteren Sinne ist. Insgesamt – so das Ergebnis der Studie – glauben 30 Prozent der Heranwachsenden an einen persönlichen Gott (Gruppe der Gottesgläubigen), 19 Prozent gehen von der Existenz einer überirdischen Macht aus (Gruppe der kirchenfern Religiösen), während 23 Prozent glaubensunsicher sind und 28 Prozent weder an einen persönlichen Gott noch an eine überirdische Macht glauben (Gruppe der Religionsfernen). Unter katholischen Jugendlichen gibt es eine größere Gruppe an Gläubigen: 41 Prozent glauben an einen persönlichen Gott, 22 Prozent an eine überirdische Macht.21
Die Shell-Studie von 2010 erhebt den Befund einer sinkenden Religiosität unter Jugendlichen – gerade auch unter Mitgliedern der katholischen Kirche: Von den katholischen Jugendlichen werden noch 32 Prozent zu den Gottesgläubigen und 22 Prozent zu den kirchenfern Religiösen gerechnet.22
Wie vielschichtig und plural die Religiosität Jugendlicher ist, zeigt auch die 2003 publizierte empirische Studie „Religiöse Signaturen heute“, deren Autoren – die Würzburger Religionspädagogen Hans-Georg Ziebertz, Boris Kalbheim und Ulrich Riegel – fünf Typen religiöser Orientierung ermitteln.23 In einer Weiterentwicklung der Studie von 2010 kommt Ziebertz zu dem Ergebnis, dass etwa 15 Prozent der Jugendlichen zum christlich-kirchlich religiösen Typus gehören. Ihr Glaube ist im Wesentlichen „der offenbarte Glaube, wie ihn die Kirche lehrt“24. Davon unterscheidet er den Typus der christlich orientierten Religiosität, dem etwa 25 Prozent der Jugendlichen angehören. Ihre Religiosität zeichnet sich aus durch eine kirchlichchristliche Prägung bei gleichzeitiger Betonung des Anspruchs „auf religiöse Autonomie“25. Die restlichen 60 Prozent der Jugendlichen werden zu gleichen Teilen dem religiös unbestimmten, dem funktional religiösen und dem nicht-religiösen Typus zugeordnet. Die Gruppe der religiös Unbestimmten hat kein biblisch-christlich geprägtes Gottesbild. Für sie gilt: „Wenn es Gott gibt, dann ist Gott eine Chiffre für eine ‚höhere Macht‘ oder ‚kosmische Energie‘, die dem Menschen absolut transzendent gegenübersteht. Und zugleich ist Gott etwas tief in einem selbst.“26 Die Funktional-Religiösen dagegen zweifeln stark daran, „ob das mit Gott und der Religion überhaupt wahr sein kann“27. Dennoch lehnen sie die Kirche nicht völlig ab, sondern bedienen sich an ihr und ihren Ritualen, etwa durch die Teilhabe an Sakramenten. Anders verhält sich die Gruppe der Nicht-Religiösen. Diese lehnt Religion dezidiert ab, distanziert sich von der Kirche und vom kirchlichen Leben und hat kein Interesse an religiösen Themen.28
Auch wenn diese Ergebnisse, die auf Erhebungen an Gymnasien in Unterfranken basieren, nicht deutschlandweit repräsentativ sind und die Verteilung der religiösen Typen mutmaßlich anders ausfiele, wenn man andere Regionen Deutschlands und andere Schulformen berücksichtigte, so lässt sich immerhin festhalten, dass