Die vorliegende Forschungsarbeit praktiziert bewusst ein methodisches Sowohl-als-auch. Da zumindest die erste Hälfte des Untersuchungszeitraums unbestritten in die Milieuphase reicht beziehungsweise noch vom «Vereinsprinzip als Strukturprinzip der bürgerlichen Gesellschaft»15 im 19. Jahrhundert geprägt ist, kann eine Analyse mit dem Milieuansatz und die Beobachtung der Konjunkturen von Kirchen- und Vereinsmitgliedschaften und Kirchenbesuchen neue Erkenntnisse zu Tage fördern. Gleichzeitig reicht die Untersuchung zeitlich über den sogenannten Niedergang des Milieus hinaus, womit für diesen Zeitraum ein ergänzendes Analyseinstrument notwendig ist. Mit der Diskursanalyse, die sich auf die Sprache konzentriert und den Wandel von Sprach- und Zeichensystemen untersucht, steht hier ein Mittel zur Verfügung.
Die Bedeutung des schweizerischen Protestantismus im 20. Jahrhundert, seine soziale und politische Gestaltungskraft und die Veränderungen in der protestantischen Kirchlichkeit blieben bislang nahezu unerforscht.16 In der Schweiz hat sich vor allem die Religionssoziologie mit der Religionsgeschichte befasst. Beispiele hierfür sind die Arbeiten von Roland J. Campiche und in jüngster Zeit von Jörg Stolz oder auch von Peter Voll.17 Die Religionssoziologie, welche seit Émile Durkheim und Max Weber zum Kernbereich der Soziologie gehörte, verlor indes «zunehmend ihre historische Dimension»,18 das heisst sie konzentriert sich hauptsächlich auf Gegenwartsanalysen. Die Kirchengeschichte dagegen ist uneingeschränkt historisch orientiert, die neuzeitliche Protestantismusforschung unter gesamtgesellschaftlichen Vorzeichen ist allerdings bislang nur ausnahmsweise in ihren Blickwinkel geraten.19 Diese Lücke kann die Erforschung der Kirchen- und Religionsgeschichte unter einem sozialgeschichtlichen Blickwinkel füllen. Mit Martin Greschat geht es ihr darum, «die Einbindung des individuellen Glaubens und seiner sozialen Wirklichkeit sowie die Einordnung der Kirchen samt ihren Organisationen und Gliederungen in die sie umgebende gesellschaftliche Realität offenzulegen. Es geht um die Frage nach der Mächtigkeit oder der Schwäche religiöser Kräfte und Kreise innerhalb des genannten Kontextes.»20 Zweitens untersucht Sozialgeschichte die Religion nicht in ihrem Verhältnis zum Staat, sondern im Verhältnis zur Gesellschaft, das heisst, dass in ihrem Mittelpunkt Veränderungen im Verhalten von Individuen und Gruppen stehen.
Wissenschaftliche Forschung im Bereich der kirchlichen Zeitgeschichte, insbesondere zum Protestantismus im 20. Jahrhundert, gewann unter den Sozialhistorikern im deutschen Sprachraum erst seit den 1980er-Jahren zunehmend an Bedeutung. Vertreten sind bis heute vor allem regionalgeschichtliche Studien, die versuchen, für ein konkretes Gebiet oder eine bestimmte Bevölkerungsgruppe eine charakteristische Mentalität nachzuweisen. Die bislang vorliegenden Resultate sind aber wegen ihrer teilweisen Disparität und ihrer regionalen Beschränkung nicht automatisch auf andere Länder übertragbar. Wünschbar sind deshalb zuerst weitere Mikrostudien, das heisst regionale konfessionelle Studien über einzelne Milieus und die jeweils prägenden Formen kirchlicher Vergesellschaftung, bevor dann begonnen werden kann, die Untersuchungsgebiete auf grössere geografische und religiöskirchliche Räume auszudehnen.21
1 Horst Bannach, zit. nach Tschudi, Felix: «Gesamtkirchliche Aufgaben und Dienste», Kirchenblatt 1, 7. 1. 1965, S. 2.
2 Tilmann Zuber, Chefredaktor des Kirchenboten, in einem Kommentar zur Zukunft der Reformierten, in: Kirchenbote Kanton Basel-Stadt, Nr. 1, Januar 2011, S. 5.
3 So der Titel dieser vom Observatoire des religions en Suisse in Lausanne verfassten Umfeldanalyse. Stolz, Jörg, Edmé Ballif (Hg.): Die Zukunft der Reformierten. Gesellschaftliche Megatrends – kirchliche Reaktionen, Zürich 2010.
4 Ein Beispiel unter vielen: Die Zeit 33, 11. 8. 2005.
5 Graf, Friedrich Wilhelm: Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2007.
6 Pollack, Detlef: Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland, Tübingen 2003, S. 12.
7 Zuletzt: Die Zeit 49, 29. 11. 2012, S. 1: «Wo Gott nichts zu suchen hat»; Die Zeit 22, 26. 5. 2011, S. 1: «Ist die Kirche noch zu retten?»; Tageswoche 48, 30. 11. 2012, S. 1: «Kranke Kirche».
8 Herbert Schnädelbach in «Wiederkehr der Religion», Zeit Online vom 11. 8. 2005.
9 Der Spiegel 15, 11. 4. 2005, S. 1.
10 Graf, Friedrich Wilhelm, Klaus Grosse Kracht: Einleitung: Religion und Gesellschaft im Europa des 20. Jahrhunderts, in: Dies. (Hg.), Religion und Gesellschaft. Europa im 20. Jahrhundert, Köln 2007, S. 26.
11 Altermatt, Urs: Katholizismus und Moderne, Zürich 1989, S. 27.
12 Herbert Kühr drückt dies so aus: «Die Frage nach der Stabilität und dem Wandel der normativen Steuerungskraft des milieuspezifischen Wertsystems bedarf zu ihrer Beantwortung eines erweiterten methodischen Instrumentariums. Der empirisch-analytische Ansatz allein genügt nicht; erforderlich sind komplementäre unterschiedliche quantitative und qualitative Verfahren.» Kühr, Herbert: Katholische und evangelische Milieus: Vermittlungsinstanzen und Wirkungsmuster, in: Oberndörfer, Dieter, Hans Rattinger, Karl Schmitt (Hg.), Wirtschaftlicher Wandel, religiöser Wandel und Wertewandel. Folgen für das politische Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1985, S. 245–261, hier S. 260.
13 Ziemann, Benjamin: Codierung von Transzendenz im Zeitalter der Privatisierung. Die Suche nach Vergemeinschaftung in der katholischen Kirche, 1945–1980, in: Geyer, Michael, Lucian Hölscher (Hg.): Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft. Transzendenz und religiöse Vergemeinschaftung in Deutschland, Göttingen 2006, S. 380–403.
14 Ziemann, Transzendenz, S. 381. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt a. M.