Tilman und die Nackten. Christoph Pitz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Pitz
Издательство: Bookwire
Серия: Würzburger historische Novellen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783429064495
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Mit einer Zeichnung, einer Figurenbehandlung des Körperlichen und Stofflichen in der Natur, mit Farben und Linienkunst, wie er es bis zu diesem Tage nicht für möglich gehalten hatte. „Meister Boticelli, euch zur Seite sitzt Tilman Riemenschneider, Bildhauer zu Würzburg aus dem Land der Tedeschi und ein Zweifelnder an deiner Bilderkunst. Du musst ihn schon überzeugen, damit deine Werke nicht in den dunklen Kellergewölben dieses Palastes verschwinden. Schon lange denke ich darüber nach.“

      Erneutes Gelächter breitete sich durch die Reihen der Gäste aus. Tilman suchte irritiert in dem zufriedenen Gesicht seines Gastgebers zu lesen.

      „Hör nicht auf die törichten Worte“, sagte Boticelli ungerührt, „das schwere Schicksal seiner Gebrechen trübt ihm die einst so klaren und hellen Sinne.“

      Tilman zuckte zusammen. Das Publikum stöhnte erfreut auf. Der Prächtige grinste. Wenn die Großen ihre Spiele trieben, konnte es dem Gewöhnlichen nur allzu leicht an den Kragen gehen. Davon lebte diese kleine Aufführung.

      „Du hast dir La Primavera angesehen, was hältst du von der Venus? Findest du sie im Gewand und den Proportionen des Körpers nicht missraten?“

      „Ich habe vor allem die Gruppe der im Kreise sich drehenden Frauen bewundert. Auch zur Rechten diejenige mit dem so reich gestalteten Gewand. Diese Körper mit den natürlichen Bewegungen darin. Die Bildung der Gesichter, die Haare, die Positionen und Haltungen. Keine gleicht der anderen. Und der Jüngling zur Linken erst! Man erfasst die Fasern des Fleisches und fühlt seine Kraft. Sein Stand mit der Hand auf der Hüfte, die den Körper durchdrückt. Ich verstehe das nicht. Wie gelingt es dir nur, dies alles auf ein ebenes Gemälde zu bannen?“ Tilman begleitete seine Worte mit ausladenden Gesten.

      „Du meinst Flora und die drei Grazien, es ist eine der römischen Götterwelt entnommene Allegorie für die Platoniker. Bei dem Jüngling, der die Nebel des Winters vertreibt, handelt es sich um Merkur.“

      „Eine was für wen?“

      „Na, ein Werk für die Platoniker. Die Akademie Lorenzos, wir sprachen doch gerade davon.“ Dampfend wurden die ersten warmen Speisen aufgetragen, Boticelli überlegte, stand auf und zerrte Tilman am Arm mit sich. „Folge mir, ich zeige dir etwas anderes.“

      Unglücklich blickte Tilman den Köstlichkeiten hinterher, über die sich die Gäste Lorenzos nun in einmütigem Wettstreit hermachten, aber er wagte nicht, dem Meister von La Primavera zu widersprechen.

      „Ich erzähle dir nachher, wie es mir gemundet hat“, gluckste Anna in seinem Rücken vor Vergnügen.

      Über eine Korridorflucht gelangten sie zu einem der Treppenhäuser und in das darüber liegende Stockwerk, dort durch erneut einen Korridor zu einem abgetrennten Wohntrakt, vor dessen geschlossener Flügeltür ein Diener auf einem Schemel wachte. Boticelli nickte diesem nur kurz zu und drückte schnurstracks die Türe auf. Tilman folgte im Nebel der Erwartung mit einem auch durch den Hunger flauen Gefühl im Bauch. Sie befanden sich in den privaten Wohnräumen des Prächtigen. Boticelli entzündete einen Kienspan an einer Ölfackel im Flur. Einmal rechts durch einen Raum, einmal links in einen weiteren, es war stockduster. Erst entflammte zur einen Seite eine Fackel, dann zur anderen, schließlich eine wachsende Anzahl von Öllichtern. Tilman stand unmittelbar vor einer riesigen Bettstatt, der Mann hatte ihn geradewegs in das Schlafgemach ihres Gastgebers geführt.

      „Dreh dich um“.

      Tilman ahnte etwas, aber als er sich umwandte, traf es ihn doch so unerwartet wie ein Blitzschlag. Vor seinem Auge tauchte im unruhig flackernden Licht der Lampen die einzigartigste Kunst auf Erden hell erstrahlend auf. Ein Gemälde in annähernd den gewaltigen Maßen von La Primavera, keine fünf Schritte entfernt. Er stand beinahe mitten darin.

      „La Nascita di Venere, die Geburt der Venus. Erkennst du Zephir wieder, den Gott des Windes, welcher die aus dem Schaum des Meeres geborene Venus zum Lande hinbläst? Er umfängt die Nymphe Chloris, welche so zu Flora, der Göttin der Frühlingsblüte aufsteigt. Du siehst sie zur Rechten die Venus mit der Kraft der fruchtbaren Natur und des Lebens ausstattend. Beide Gemälde gehören zusammen.“

      Tilman war der Erwiderung unfähig. Er wollte etwas sagen, aber sein Mund gehorchte nicht. Stattdessen trat er ganz nah an diese einzigartige Erscheinung heran und suchten sie Partie für Partie nach einem Verstehen ab. Boticelli betrachtete amüsiert, aber vor allem überaus zufrieden das geblendete Erstaunen des jungen Meisters aus dem fremden Norden. Er ließ ihm Zeit.

      Die Komposition, die Proportionen, die Perspektiven, die Farben, die kleinsten Details, die Kraft der Botschaft, eine größere Meisterschaft konnte es nicht geben. Tilmans Augenlider begannen zu flattern, so viele Dinge waren zu entdecken. Ach, könnte er das Bild doch nur in seinem Kopf exakt bewahren, warum hatte er auch nicht ein Blatt Papier und seine Zeichenkohle in das Wams gesteckt, als sie sich zum Mahl an der Fürstentafel umzogen? Ein zweites Mal würde er die persönlichen Gemächer des Prächtigen gewiss nicht mehr betreten können; vielleicht gelänge es ihm, später eine Zeichnung in ihrer Kammer zu verfertigen, wenn der Abend nur nicht zu lange andauerte und die Erscheinung der Venus noch frisch im Herzen seiner Erinnerung wäre. Er wollte es versuchen.

      „Ihr seid ein Esel, Boticelli“, sagte eine Stimme unvermittelt in ihrem Rücken, „diese Venus da ist aus dem Gleichgewicht, sie fällt um. Und von dem Körper der Frauen versteht Ihr noch weniger als von euren männlichen Figuren.“

      Boticelli fuhr herum. „Ah, Buonarroti! Wenn der Prächtige nicht so einen Narren an dir gefressen hätte, setzte es jetzt ein paar kräftige Hiebe. Was machst du überhaupt hier?“

      „Ich bin euch gefolgt, da ich mir schon dachte, dass Ihr Meister Tilman den falschen Weg weisen würdet.“

      „So, dachtest du dir …“

      „Ja, denn in Plastik hätte diese Venus keinen Stand, sie fiele um. Die Hüfte ist schief, die Bauchmuskeln sind die eines Mannes, die Schlüsselbeine sind zu kurz …“

      „Die was für Beine?“ Boticelli vermochte seine Verärgerung kaum zu beherrschen.

      „Die Schlüsselbeine. Der Knochen, der das Schultergelenk stabil macht.“

      „Bursche. Du hast eine gewisse Begabung, das sehe auch ich, aber dein Hochmut verwirrt dir den Sinn. Kein Wunder, dass Ghirlandaio seine Not an dir hatte. Wahrscheinlich bringst du nun den alten Bertoldo auf direktem Wege in sein Grab.“

      „Vergebt mir meine Offenheit, aber der unwahre Weg ist weder der Weg der Erkenntnis noch der Erleuchtung. Es ist die Akademie des Lorenzo, welche dies sagt, nicht ich. Meister Ghirlandaio versteht die Tiefen des Körperbaus sehr viel besser, als Ihr es tut.“

      „Das Geschwätz höre ich mir nicht mehr länger an. Der Knabe weiß ja noch nicht einmal um die Bedeutung des Ausdrucks einer Allegorie. Kommt, Meister Tilman, kehren wir zurück zu unserem Mahl.“

      Boticelli zog Tilman wutentbrannt mit sich aus dem Schlafgemach und der Privatwohnung Lorenzo de Medicis hinaus. Tilmans Gedanken kreisten dabei noch immer um die Venus und darum, dass eine solche Kunst in seiner Heimat Würzburg und überhaupt in deutschen Landen wohl nicht einmal einen Auftraggeber oder Förderer fände. Schon gar nicht in seinem Fach, der Skulptur in Stein oder Holz. Wie schade.

      Der junge Michelangelo blieb indess betrachtend noch vor der ‚Geburt der Venus‘ stehen und sah nach einer Weile in seinem Geist eine gewaltige Plastik in Marmor auftauchen, welche das schlicht Unmögliche in Statik und Statur vollbringen würde. Dann löschte er die Lichter und ging hinaus.

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