Die ignatianischen Regeln zur »Unterscheidung der Geister« zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie nicht von vornherein bestimmte »Geister« als böse oder gut qualifizieren. Sie bestehen nicht in der Anwendung von abstrakten Prinzipien auf konkrete Situationen. Vielmehr geht es um eine Kunst des »Kostens und Schmeckens«, also um Wahrnehmungskunst. Da Gefühle wahrgenommen werden, lässt sich zunächst nichts verallgemeinern. Der eine ist traurig gestimmt wegen bestimmter Ereignisse, der andere nicht. Es macht keinen Sinn, dem anderen vorzuwerfen, dass er oder sie in derselben Situation anders empfindet als ich. Im Gegenteil, der Verschmelzungswunsch, der hinter diesem Vorwurf oft steckt, ist selbst einer geistlichen Unterscheidung zu unterziehen. Es gibt einen Unterschied zwischen wünschenswerter »Einheit« in der Kirche und Verschmelzung. Genau aus diesem Grund stehen die Regeln der Unterscheidung der Geister auch für einen Freiheitsraum in der Kirche, in dem niemand – außer dem guten und dem bösen Geist selbst – mitreden kann. Einheit steht nicht gegen Freiheit. Deswegen legt ja Ignatius Wert darauf, dass sich der spirituelle Begleiter in allen Dingen, »die der freien Entscheidungsmacht gestattet und ihr nicht verboten« sind (GÜ 23), herauszuhalten hat, also auf der Waage der Seele des anderen wie auf der eigenen Seelenwaage an jenem Punkt zu stehen hat, von dem her er das Ergebnis der Wägung eben nicht beeinflussen kann, nämlich »in der Mitte der Waage« (GÜ 15). Das gilt natürlich auch für die Frage, wann Kritik an Entwicklungen in der Kirche dran ist und wann nicht und nach welchen geistlichen Kriterien ich beurteilen kann, ob mein Impuls zur Kritik vom guten oder vom bösen Geist kommt, also aus Loyalität notwendig ist oder doch eher mit Lieblosigkeit und Illoyalität zu tun hat.
Eine Kirchenleitung, die nicht unterscheiden könnte zwischen loyaler und illoyaler Kritik, liefe Gefahr, sich von der Wirklichkeit zu entfernen und als Blindgänger durch die Welt zu laufen, gefährlich für sich und für andere. Die Enttäuschung der drei oben erwähnten Jugendlichen erreichte ihren Höhepunkt, als sie ihre loyale Kritik als Ausdruck von Illoyalität denunziert sahen, als anti-römischen Affekt und schließlich als Feindseligkeit gegenüber dem Papst. Sie verstanden schließlich auch die Äußerungen des Heiligen Vaters gegenüber seinen Kritikern so, dass er diese Stimmen bestätigte.2
Gewiss, es gibt auch lauernde Kirchenfeinde, die nur auf die Gelegenheit warten, eine Schwäche beim Papst oder bei den Bischöfen zu finden, um zubeißen zu können. Aber daraus folgt nur, dass man eben zwischen diesen »Kirchenkritikern« und den anderen unterscheiden muss. Tut man das nicht, erweist man der Kirche und auch dem Papst keinen Gefallen, auch dann nicht, wenn man sich lautstark als Verteidiger derselben aufspielt. Es gibt Verteidigungsstrategien, die dem Verteidigten mehr schaden als nutzen. Der böse Geist ist wirklich schlau (Gen 3,1).
Ich hoffe, dass die folgenden Überlegungen ein wenig zur Unterscheidung der Geister beitragen und zu loyaler Kritik ermutigen. Die Kirche und der Papst brauchen ebenso wie Familien, Gemeinschaften und Völker diesen Dienst an der Einheit, den der »böse Feind« gerne als Spaltung denunziert. Dabei soll in einem ersten Anlauf versucht werden, die Grundlagen des Verhältnisses von Loyalität und Kritik vor allem an Beispielen aus dem Evangelium zu bedenken. Im zweiten Anlauf geht es um die Frage, wie denn loyale Kritik von falscher Selbstsicherheit zu unterscheiden ist. Der dritte Anlauf handelt – insbesondere auch vor dem Hintergrund der ignatianischen Tradition – von der Vereinbarkeit zwischen Liebe zu und Kritik an der Kirche und am Papst. Der Impuls endet mit zwei Meditationen: eine über den Verdacht, die andere über die Macht des Schweigens und die Kraft des loyalen Widerspruchs.
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