Allerdings nehme ich mich ja auch in den Urlaub immer selbst mit. Da kann es mir gehen wie dem Sohn in der zweiten Nacht: Es ist sehr ungewohnt und irgendwie bedrohlich, plötzlich nichts zu tun, keine Beschäftigung, keine Ablenkung: Ich bekomme das dringende Bedürfnis, diesen Leerraum zu füllen, egal mit was.
Sei es noch so wichtig, fromm und gut: Es kann auch schaden, wenn es nur Ablenkung ist, die Weite und Leere der vor mir liegenden Zeit nicht auszuhalten.
Ausdrückliche spirituelle Zeiten wie Exerzitien schauen dem bewusst ins Auge. Ich entschließe mich (schönes Wort: mich ent-schließen …), zu schweigen und Beschäftigungen und Ablenkungen so weit es mir möglich ist zu reduzieren. Die Begleitgespräche mit einer Person meines Vertrauens können da hilfreich sein: Ein Vater: »Meine Frau und die Kinder sind ja zu Hause. Da ist es doch sicher gut, auch ab und zu mal aufs Handy zu schauen, ob auch alles in Ordnung ist.« Eine Lehrerin: »Ich habe da ein gutes Buch von Anselm Grün mitgebracht. Das kann doch bestimmt nicht schaden!« Oder ein Diakon: »Ich bin es gewohnt morgens in meinem Stundengebet die Fürbitten für meine Kranken einzubeziehen. Das kann doch nur gut sein.« Was es auch ist, sei es noch so wichtig, fromm und gut: Es kann auch schaden, wenn es nur Ablenkung ist, die Weite und Leere der vor mir liegenden Zeit nicht auszuhalten.
Ich sage dann z.B.: »Versuchen sie einmal, sich vom Handy abzumelden. Sie können sich gern über den Empfang des Hauses hier für Notfälle erreichbar halten. Legen Sie das gute Buch ruhig beiseite. Alles, was Sie an guten Gedanken und Empfindungen brauchen, ist schon in Ihnen da. Dem Stundengebet und den Kranken können Sie sich alle Tage des Jahres widmen. Hier geht es nur einzig und allein um Sie vor und in Ihrem Gott.«
Stille Nacht
Kein Whatsapp, keine SMS, keine Musik, kein Anruf
kein Fernsehen
kein Buch
überhaupt nichts tun
nur dasitzen
da sein
untätig und unnütz
nicht weglaufen
bleiben
standhalten
aushalten
wie der Fels in der Brandung
ein Grashalm im Herbstwind
der Baum im Winter
oder das Tau beim Ziehen.
Der flüchtigen Seele den Schritt verbieten:
Bleib hier,
um Gottes willen!
Der Schatz liegt tiefer
als alles, was Angst macht.
Die Lösung
liegt hinter dem Sturm
und hinter dem Beben
und hinter dem Feuer.
(aus: Johannes Lieder, herzoffen – Inspirationen zur Zukunft der Religionen, Echter Verlag 2017, S. 35)
Wenn diese Hürden endlich alle überwunden sind, kann ich mich in dem tiefsten Raum einfinden, mich niederlassen, Platz nehmen, mir meinen Platz in meinem Leben nehmen, da sein und bei mir bleiben.
Wie es in der Geschichte in der dritten Nacht heißt: einschlafen.
Einschlafen als Inbegriff des sich Lösens, Loslassens und Überlassens, der Öffnung für das Geschehenlassen des Friedens und die Wunder der Träume. In solchen Nächten zeigen sich keine Albträume. Es ist immer wieder faszinierend, mit welcher Phantasie und markanten Hinweiskraft diese Traumbilder arrangiert sind – so wie sie wohl nur eine göttliche Regisseurin kreieren kann.
Dann kann sich meine Sehnsucht und innere Liebesbedürftigkeit zeigen. Und ich gelange an die Grenze meiner Existenz, wo kein anderer Mensch und keine Macht »dieser Welt« mehr Bedeutung hat.
Der Eingang
Geh’ in einen Raum,
den nur Du kennst.
Schließ’ Deine Tür zu
und wirf für jetzt den Schlüssel fort.
Sei Deiner Seelenstimme nah,
ihrem Weinen, ihrem Lachen.
Ihr Klang wird Dich erinnern
an Wind und Wasser,
Zeit und Ewigkeit,
ihr Blick an die Liebe aller Lieben.
Du allein bist Gold wert
dem, dem Du dort begegnest.
(aus: Johannes Lieder, Auf Schatzsuche – Gedichte von der Schönheit und dem Wagnis auf dem christlichen Weg, Echter-Verlag 2011, Seite 91)
In diesem Raum und in dieser Haltung kann sich das ausdrückliche Beten ereignen. Dann, weil es um mein absolutes Grundbedürfnis geht, bete ich echt und aus tiefstem Herzen.
Dies meint Jesus in der Bergpredigt nach Matthäus, als er sagt:
»Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler. Sie stellen sich beim Gebet gern in die Synagogen und an die Straßenecken, damit sie von den Leuten gesehen werden. Amen, das sage ich euch: Sie haben ihren Lohn bereits erhalten.
Du aber geh in deine Kammer, wenn du betest, und schließ die Tür zu; dann bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist. Dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.
Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen.«
(Matthäus 6,5–8)
Jesus ermutigt dazu, nicht auch noch im Gebet dem Aktionismus zu verfallen, sondern sich in diesen zweckfreien, scheinbar leeren Raum der äußeren und inneren Kammer zu begeben und sich dann schlicht und einfach mit dem eigenen Herzensanliegen vor Gott zu halten in einer liebevoll intimen Gegenwart … Das »Vergelten« meint: Dies wird sich lohnen! Mein Leben wird ruhiger, gelassener, klarer, entschiedener in der Liebe zu mir selbst und den anderen.
Zeit nehmen und aufatmen auch mitten im Alltag
Exerzitien heißt Übungen. Und wie es mit jeglichen Übungen ist, sei es Klavierspielen, Yoga, eine Sprache lernen, in einem Chor singen oder ähnliches, gibt es besondere Auszeiten intensiveren Übens und das Üben im Alltag, im ganz normalen Leben.
So übe ich bei Schweigeexerzitienkursen Lebensgrundhaltungen ein, die natürlich im ganzen Leben grundlegend sind und in jedem bewussten Moment geübt werden können. Nebenbei gesagt heißt unser Team im Bistum Essen daher »team exercitia – Leben üben. Seit Menschengedenken«.
Dieses ›Leben Üben‹ mitten im alltäglichen Ablauf hat sehr viel mit unserem Thema »Muße« zu tun. Ja, das Erste ist, sich zur Muße zu entscheiden, die Scheidung vom andauernden Rennen, die Langeweile nicht zu scheuen und mir die Freiheit