Die zentrale Ursache für das Entstehen eines eigenen eucharistischen Kultes ist in der Beobachtung Nußbaums vor allem die Übertragung der Bedeutung der Messfeier und des Kommunionempfangs auf das Anschauen der Hostie bei der Elevation19. Die nach einer Schau der konsekrierten Hostie verlangende Frömmigkeit verselbstständigt sich in der Folgezeit zunehmend20. Peter Browe schlussfolgert aus seinen Untersuchungen: „[…] von Anfang an war die Elevation die eindringliche liturgische Geste, die darauf hinwies, daß das Brot wahrhaft und wirklich in den Leib des Herrn gewandelt ist und angebetet werden soll. Sie war Aufforderung zur Anbetung“21.
Neben den Franziskanern und Zisterziensern, denen eine hohe Relevanz im Vorantreiben einer dezidiert eucharistischen Verehrung zugesprochen werden muss, ist es vor allem Lüttich, das im 13. Jahrhundert zu einem Zentrum der eucharistischen Lehre wird und eine eigenständige Form der Verehrung der Eucharistie herausbildet22. Auch das Fronleichnamsfest hat in Lüttich und dem dortigen Kreis der Anhänger einer eucharistischen Verehrung, mit Juliane vom Kornelienberg als Initiatorin, seinen Ursprung.
Seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert finden die ersten theophorischen Prozessionen statt, bei denen das Viaticum feierlich und mit Geleit zu den Kranken getragen wird23. Mit der Entstehung und offiziellen Einführung des Fronleichnamsfestes erhält die eucharistische Verehrung entscheidende Impulse und der Aufbewahrungsgrund auch zum Zwecke der Anbetung wird zunehmend selbstverständlich. Während sich das Fest zunächst nur von einzelnen Kirchen aus über ganze Städte (vor allem in Deutschland) und Bistümer ausbreitet, erfährt es nach der Aufnahme der Bulle Urbans IV. in die klementinische Gesetzessammlung durch Johannes XXII. im Jahre 1317 in ganz Europa Verbreitung24 und fördert enorm die eucharistische Frömmigkeit. Gleichzeitig mit dem Fronleichnamsfest entwickelt sich nun auch der Brauch, die Hostie in einem Schaugefäß ausgesetzt auf dem Altar stehen zu lassen. Zunächst geschieht dies nur in der Messe und innerhalb der Fronleichnamsoktav, doch kommt es schnell zu dem Brauch, auch darüber hinaus die heilige Eucharistie auszusetzen, was ein bedeutendes Indiz zur Verselbstständigung dieses Kultes ist25. Kritik an diesen Praktiken führte zwar mancherorts zu Reduzierungen der Aussetzungen, vor allem außerhalb der Messe und außerhalb der Fronleichnamsoktav, aber eindämmen ließen sie sich nicht mehr; die Volksfrömmigkeit und ihr Schauverlangen blieb stärker26. Das Vierzigstündige Gebet – zunächst als Grabwache gedacht – entwickelt sich schließlich zu einem Gebet vor dem Allerheiligsten27. Die Verehrung der Eucharistie wird von nun an ein zusätzlicher Aufbewahrungsgrund. Schon 1220 bestimmt das Konzil von Durham, dass während eines Versehgangs zumindest eine Hostie in der Kirche zurückbleiben muss, was später mit der Gewährleistung einer Möglichkeit der Anbetung begründet wird28. Als weitere sichtbare Zeichen für einen eigenen Kult der Anbetung nennt Nußbaum die Tatsache, dass es nun vielerorts zwei Aufbewahrungsgefäße gibt – eines für das Viaticum, eines für die Anbetung – und den Brauch, am Aufbewahrungsort ein ewiges Licht zu entzünden29. Kurz: Eucharistische Anbetung in der uns heute noch vertrauten Gestalt ist geboren. Es war wohl ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren30, die zu dieser besonderen Form eucharistischer Frömmigkeit führten, und es tritt in den Untersuchungen Browes und Nußbaums deutlich zu Tage, dass es sich bei ihrer Entstehung nicht um eine von oben indoktrinierte, systematisch angeleitete Frömmigkeitsform handelt, sondern um eine konkrete, lokal statthabende Praxis, die sich sowohl aus dem Volk sowie aus Priester- und Gelehrtenkreisen herausbildete.
Vordergründig könnte man meinen, die konsekrierten eucharistischen Gaben seien zum Konsum durch die Gläubigen bestimmt und würden ihres inneren Sinnes entleert, wenn sie – in Schaugefäßen ausgestellt – zu Objekten verdinglicht statt gegessen bzw. getrunken würden. Hans Urs von Balthasar legt dem „zeitgenössischen Kritiker“ die Worte in den Mund: „Welchen Sinn soll es denn haben, stundenlang vor einem Stück Brot – wie immer transsubstantiiert es sein mag – zu knien und ‚anzubeten’ […] Brot ist zum Essen da, nicht zum Anschauen oder Andenken, und die Gegenwart Christi ist durch Kirchenmauern ebenso wenig eingeschränkt wie durch Tabernakel oder Monstranz. Weder kann man sich Jesus im Abendmahlssaal vorstellen, der das Stück Brot den Jüngern zur Verehrung statt zum Essen hinhalten würde, noch sich ausdenken, wie ihm zumute sein mag als Ausstellungsgegenstand auf Altären der Kirche. Man sieht deutlich, wo die Dinge – wenn auch sehr allmählich, durch Jahrhunderte – auf die schiefe Bahn geraten sind, vom Pneumatischen weg immer mehr ans Materielle heran: das Ereignis wurde statisch, der Vorgang wurde Zustand, das unfasslich sich Darbietende zum fasslich Dargebotenen, das Unanschauliche zum Gesehenen, die göttliche zu einer irdischen Nähe“31.
Aber, so wendet Balthasar ein, „vielleicht ist es für einen, der etwas tiefer nachdenkt, gar nicht auf so einfache Formeln zu bringen. […] Eucharistie heißt: Der Herr kommt, das ist sein Akt; aber dem folgt kein Akt des Fortgehens. […] Die Eucharistiefeier ist ein wahres Ereignis, gleichsam ein Einbruch der Ewigkeit in die Zeit; aber dem folgt kein Rückzug der Ewigkeit aus der Zeit. […] Die Unterscheidung zwischen Zustand und Ereignis fällt dahin: das ewige Ereignis der dreieinigen Liebe Gottes, das zugleich sein ewiger Zustand ist, hat sich in einem unverwechselbaren einmaligen geschichtlichen Ereignis im Menschwerden, Leben und Sterben-Auferstehen Jesu Christi der Welt offenbart“32.
Der in der Materie einer unscheinbaren Hostie verdichtete Glaube an die Inkarnation Gottes hat de facto zu einer auf Erfahrung gegründeten Theologie des Konkreten und nicht zuletzt zu der Bereitschaft geführt, Christentum als Praxis der herabsteigenden, fußwaschenden, gekreuzigten Liebe zu verstehen. Diese Mystik des eucharistischen Sakramentes bestätigt den unauflöslichen Zusammenhang von Liturgie und Diakonie, der – wie zu zeigen sein wird – in der eucharistischen Anbetung das Moment einer Unbedingtheit erfährt. Denn es geht in der eucharistischen Anbetung nicht um eine privatistische Abkehr von der Welt (wenngleich die Gefahr einer solchen natürlich immer gegeben ist), sondern um die Begegnung mit dem Christus, der den Liebesdienst an seinem Nächsten radikal gelebt hat33.
Zunächst gilt für die eucharistische Anbetung die gleiche Charakterisierung wie für die Anbetung im Allgemeinen. Dass Gebet mehr ist als die ihm üblicherweise innewohnende Zweckmäßigkeit, wird besonders in der Anbetung deutlich. Anbetung in ihren verschiedenen Ausdrucksformen und Kulten