Nie hatte er mit seiner Mutter über deren Verhältnis mit dem Polizisten gesprochen. Mutter und Sohn hatten ihn aus ihrem Leben verdrängt. Das Leben ging weiter. Ihre Beziehung wurde respektvoll, geprägt von höflichen Manieren. Die Mutter hatte seinen beruflichen Werdegang finanziell, soweit es ging, unterstützt. Sie wurde auf ihre alten Tage religiös und ging jeden Sonntag in den Dom zum Gottesdienst. Betete für beide Seelen. Sie bewunderte die teuren Mäntel der Reichen, die sie von der Predigt ein wenig ablenkten. Ihr Sohn blieb zu Hause und verkroch sich in seine Bücher.
Über die Jahre, die sie beide zusammenlebten, vermisste der Junge nur eines: Nie hatte seine Mutter ihm gesagt, dass sie ihn liebte. Er wusste nicht, ob er in dieser Welt willkommen war. Aber er liebte seine Mutter. Verzieh ihr die unsägliche Beziehung zu diesem Monster, das in seinen Träumen immer wiederund wiederkehrte. Ihn mit einem Flammenschwert in Stücke schnitt. Seine Mutter war die Einzige gewesen, die ihm Trost und Wärme spenden konnte, wenn er fror.
Noch am Tag der Beerdigung, spät am Nachmittag, begann der junge Mann die Wohnung auf den Kopf zu stellen. Er war sich selbst nicht im Klaren, nach was er eigentlich suchte. Es war ein innerer Drang, der seit Stunden in ihm wühlte und dem er jetzt nachgab. Es war wohl die Sehnsucht, ein Geheimnis zu lüften, obwohl vielleicht gar keines existierte. Er durchwühlte Mutters Wäsche, das Bettzeug. Sog den Duft ihrer Unterwäsche ein. Durchblätterte alte Bücher. Unbrauchbares warf er in einen Abfallsack.
Als er Der Glöckner von Notre-Dame von Victor Hugo in Händen hielt und darin blätterte, fiel, als er es nach unten hielt und schüttelte, so dass die Seiten in der Zimmerluft flatterten, ein Brief zu Boden. Dessen Inhalt sollte sein Leben für immer verändern. Zitternd las er die schnörkellose Handschrift der Mutter:
Sehr geehrter Herr NSDAP-Kreisleiter,
ich möchte mich als einfache Frau an Sie wenden, weil ich mein Gewissen erleichtern muss. Mein Mann scheint ein Kommunist und Judenfreund zu sein. Als er aus Frankreich auf Heimaturlaub war, lästerte er, dass unser Führer ein dummer, arroganter Mensch ist. Es sei schade, daß das Attentat am 20. Juli nicht geklappt hat, dann wären die Verbrecher jetzt da, wo sie hingehören: in der Hölle. Genauso hat er es gesagt. Ich kann mit so einem Mann nicht mehr zusammenleben. Ich will mich scheiden lassen, aber er möchte das nicht. Ich will nur meine Pflicht gegenüber unserem heroischen Führer tun, weil ich an ihn glaube. Bitte sorgen Sie dafür, dass mein Mann seine verdiente Strafe erhält.
Heil Hitler!
Der Mann vergrub das Gesicht in den Händen. Tränen, es sollten die letzten sein, die er vergoss, rannen ihm in die Mundwinkel, tropften auf die Buchstaben und wuschen etwas Tinte vom Blatt.
Er hatte seinen Vater nie kennenlernen dürfen. Er wurde, das war nachvollziehbar, während eines Fronturlaubes gezeugt. Er war jedoch kein Kind der Liebe. Er war das Kind eines aufgestauten Gefühls. Ein Akt wie ein Blitzkrieg. Schnell und effektiv. Dennoch spürte er eine Bindung zu diesem Mann, der auf den Fotos, die ihm seine Mutter manchmal zeigen musste, so traurige Augen hatte und nie lächelte. Und jetzt, nachdem er den Brief gelesen hatte, kam ihm der Gedanke, dass dieser Soldat vielleicht gar nicht sein leiblicher Vater war. Ihm wurde schwindelig.
Hektisch blätterte er weitere Bücher auf, und tatsächlich, ein weiterer Brief entglitt. Diesmal aus Goethes Gesammelten Werken.
Der Absender: Nachkriegsgericht Würzburg. Er las rasend schnell. Zweimal hintereinander. Dem Inhalt entnahm er, dass die Mutter von jemandem angezeigt worden war, weil sie ihren Mann den Nazischergen ans Messer geliefert hatte. In ihrer Vernehmung vor dem Richter hatte sie angegeben, sie sei hochschwanger gewesen, und ihr Mann, auf Heimaturlaub, habe das Kind nicht anerkennen wollen. Kriegszeiten seien nun mal andere Zeiten. Heute wisse man alles besser, aber damals hätte sie einfach Angst gehabt, als der Mann den Führer beleidigt und ihr auch noch gesagt hatte, er liebe sie nicht mehr. Sie war verzweifelt. Aber die Frucht in ihrem Leibe erhielt ihren Lebensmut. Sie habe nie gewollt, dass er an die Ostfront geschickt wurde, wo er einen tragischen Tod fand.
Aus diesen Sätzen sprachen Häme und Hohn. Der Mann war sich absolut sicher, dass die Mutter seinen Vater in den sicheren Tod geschickt hatte. Wissend und wollend. Wieso tat sie so etwas? Er stand auf. Sein Herz raste. Wie ein Tier im Gehege lief er in der Wohnung hin und her. Seine Mutter, eine Denunziantin? Er stürmte ins Bad und übergab sich. Er spritzte sich Wasser ins Gesicht und besah sein Spiegelbild. Wer bin ich? Wie viel Vater, wie viel Mutter trage ich in mir? Er hatte seine Mutter nicht gekannt. Seine Liebe zu ihr verdunstete wie Wasser in der Sonne. Kein Hass. Ihm wurde nun auch die Beziehung zu dem Polizisten deutlicher. Seine Mutter war eine regimetreue deutsche Frau, die sich dem Führer bedingungslos unterworfen hatte. Als es mit dem Reich zu Ende ging, kam ihr ein neuer deutscher Uniformträger gerade recht. Der Polizist. Er versuchte die schlechten Gedanken an die Mutter zu verscheuchen. Es gelang ihm nicht.
Einige Zeilen weiter las er, dass das Gericht hinsichtlich des Wohlergehens des Jungen im Sinne der Mutter urteilte und sie freisprach.
Der Mann nahm eine Schatulle zur Hand. Er faltete die beiden Briefe sorgfältig. Atmete tief durch. Legte sie hinein. Dann stellte er das Behältnis behutsam auf seinen Schreibtisch. Er blickte aus dem Fenster. Abermals lag sein Leben in Schutt und Asche. Die Dämonen des Krieges lassen einen nie ruhen.
Ihm kam der Mann mit der Uniform in den Sinn, als er damals so gutgelaunt, mit der Eins, nach Hause gekommen war. Mit dem Polizisten zog das Unheil auf. Man hatte ihn alleine gelassen. Mit seinen Gedanken. Mit seinen Sorgen. Mit seinen Ängsten. Mit seinen Schmerzen. Deutschland wollte wieder wachsen. Da war kein Platz für Sorgenkinder.
Er strich ein blütenweißes Papier glatt. Befeuchtete die Spitze des Dupont-Füllers mit der Zunge und begann dem toten Vater einen Brief zu schreiben.
AUFBLENDE
1
Sommer 2003.
Röhrende Jets verursachten am blauen Himmel kondensierende Kratzer. Eine Putzfrau schüttete einen Eimer Wasser aus, das sofort verdunstete. Die Sonne brannte heiß auf ausgezogene Leiber. Hitze schälte den Lack vom Blechkleid ächzender Karossen. Häuser lehnten faul in der Hitze und fraßen Staub mit gierigen Mäulern. Schweißperlen tropften zu Boden. Wespen stachen gut gelaunt in Menschenfleisch. Europa beklagte Tausende Hitzetode, zur Freude der Insekten, die lustvoll ihre Lätze umgebunden hatten. Ernteausfälle waren zu verzeichnen, und Atomkraftwerke wurden abgeschaltet. Kleine Flüsse trockneten aus. Der Würzburger Kessel brodelte. Jene Stadt, deren Kirchtürme den Himmel perforieren, damit der rechte Glaube auf die Menschen rieselt.
Drohende Schatten zogen aus der Ferne auf.
Dunkle Flecken auf einem Gesicht.
Ein lachendes, hübsches Gesicht.
Dunkle Flecken auf einem Gesicht.
Blut.
Blut.
Blut.
Blut, das fließt.
Blut, das pocht.
Blut, das stirbt.
Unreines Blut floss durch die Adern der Hauptkommissarin Rebecca Rust. Das vibrierende Handy auf dem Nachttisch riss sie aus einem Albtraum. Die Haarsträhnen hingen schweißverklebt an der Stirn. 6 Uhr 30.
„Ja?“
„Hallo Rebecca. Wagner hier. Einsatzzentrale. Entschuldige, dass ich dich wecken muss. Aber du musst unverzüglich zur Dienststelle kommen! Es wurde ein Mord gemeldet. Ein Kollege ist das Opfer. Die Chefs sind schon verständigt. Du kannst dir vorstellen, wie nervös hier alle sind!“
Ferdinand, der Kater, strich um ihre Füße, als sie aus dem Bad kam. Sie gab ihm ein ganzes Schälchen Trockenfutter und hoffte, dass er sich faul in der Wohnung verkroch, bis sie nach Hause kam.
Der schwarze Nissan Micra fand seinen Parkplatz vor dem Dienstgebäude. Rebecca hastete die zwei Stockwerke hoch