Im verträumten Städtchen Oehringen, gelegen im Hohenloher Land (zwischen Neckar und Tauber), kommt der gesamte „Weizsäcker-Clan“ alle fünf Jahre zusammen. Die Tradition, das Familientreffen in Oehringen abzuhalten, besteht seit 1967. Der organisatorische Aufwand ist enorm, denn schließlich treffen sich jeweils weit über einhundert Personen, oft hochrangige Persönlichkeiten mit dicht gefülltem Terminkalender, die aus aller Welt anreisen.2
Die Mutter Marianne, eine geborene von Graevenitz (1889-1983), lebte bis zu ihrem Tod in der württembergischen Heimat, und der erwachsene Sohn ließ es sich nicht nehmen, sie so oft wie möglich zu besuchen. Im Elternhaus herrschte eine sehr tolerante und liebevolle Atmosphäre. Über Politik wurde eifrig diskutiert, denn schließlich war der Vater, Ernst von Weizsäcker, seit 1919 als Diplomat tätig. Man besaß also auch Informationen aus erster Hand.
Über die frühe Kindheit ist nicht viel zu berichten. Es versteht sich von selbst, dass der Erste Weltkrieg (1914-1918) eine nachhaltige Wirkung auf den Jungen ausübt, obwohl er die Vorgänge geistig noch nicht zuordnen kann. Gerade in den Kriegsjahren verbringt Carl Friedrich viel Zeit zusammen mit dem Großvater in Stuttgart. Die beiden verstehen sich offenbar prächtig. Sie scherzen miteinander: Der Alte nennt ihn „Spitzbub“ und der Junge kontert frech, schimpft ihn einen „Spitzgroßpapa“. Beim gemeinsamen Pilzesammeln im Wald begeistert sich der Opa für ein sehenswertes „Parlament“ von Steinpilzen. Das Politische wird Carl Friedrich von Weizsäcker von frühester Kindheit an nahegebracht, vom Vater gibt es diesbezüglich einige lehrhafte Unterweisungen, später auch für den kleinen Richard. Ein ebenso liebevolles Verhältnis bestand zu den beiden Onkeln Viktor von Weizsäcker und Fritz von Graevenitz. Letzterer war Bildhauer. Vor allem bei ihm entwickelt der begabte Schüler und angehende Wissenschaftler einen ausgeprägten ästhetischen Sinn, ein Gespür für die künstlerische Haltung sowie für die Bedeutung von Kunst und Kreativität.
Der Onkel väterlicherseits, Viktor von Weizsäcker, war ein fortschrittlicher Arzt, ein Neurologe und Psychologe mit besonderem Hang zur Anthropologie und Philosophie. Psychosomatische Medizin ist zur damaligen Zeit ein weitgehend unbekanntes Fachgebiet. Sein Onkel Viktor hat sogar eine völlig neue ganzheitliche Methode erfunden, die sogenannte Gestalttherapie. Der junge Mann gewinnt entscheidende Einblicke, denn er erhält die Information gewissermaßen aus erster Hand. Carl Friedrich von Weizsäcker schreibt über seinen Onkel: Er „öffnete mir unerlässlich wichtige Horizonte“.3 In späteren Jahren setzte sich Weizsäcker noch sehr intensiv mit diesem Gedankengut auseinander, las die Schriften des Onkels mit großer Aufmerksamkeit und kam, wie immer, während der Analyse zu eigenen Erkenntnissen und Überzeugungen: „Jahrzehntelang konnte ich über Äußerungen von ihm meditieren.“
Gerade im Gespräch, in der Diskussion mit den Erwachsenen, deren Umgang er von klein auf bevorzugt, entsteht Weizsäckers sehr differenziertes Urteilsvermögen. Wissbegier ist ein Charakterzug, der sich bei ihm sicher auch mit den familiären Verhältnissen erklären lässt. Doch die Intensität seiner urpersönlichen Gefühlslage, sein unablässiges Drängen und der unbezähmbare Wille, stets ein ganzheitliches Wissen zu erlangen, bleibt ein bemerkenswertes Phänomen.
Da ist ein achtjähriger Junge, der inständig wissen möchte, wie alles zusammenhängt, der das Ganze zu ergründen trachtet, freilich ohne sich dieses Streben schon geistig klar bewusst machen zu können. Das „Ganze“ versteht er zunächst auch mehr kosmologisch, nicht philosophisch. Es ist das Weltall, das ihn fasziniert, weil es eine unbegreifliche Ganzheit widerspiegelt. Als 12-jähriger, frisch ausgestattet mit einer Sternenkarte, geht er in die Nacht hinaus, um Beobachtungen anzustellen, und hat dabei ein intensives religiöses Erlebnis. Neben der intellektuellen Veranlagung spricht dies für eine besondere Gefühlsintensität.
Die große Leidenschaft für Astronomie ist sehr auffällig, und sie gipfelt im klar geäußerten Wunsch, dieses Fach einmal zu studieren. Keine Frage, dass diese Leidenschaft eng mit der Wissbegier zusammenhängt, speziell mit der philosophischen Neugier für die Urgründe und den Sinn des Daseins. Ein tiefes Gefühl für Schönheit und Gesetzmäßigkeit schwingt ebenfalls dabei mit.
Ob das Kind mehr oder weniger deutliche Ansätze zur Genialität zeigt, lässt sich heute nur schwer beantworten. Carl Friedrich ist sicher kein typisches „Wunderkind“. Doch gewisse Auffälligkeiten sind zweifellos vorhanden, wie z.B. sein geliebtes „Schwätzen“ (schwäbisch „schwätze“), sogar eine Art frühes Dozieren, ein altkluges Benehmen, das jedoch bereits durchaus auf Wissen beruht, und schließlich die Fähigkeit, sich mit Erwachsenen gut unterhalten zu können. Der große Intellekt leuchtet also bereits sehr früh in ihm auf.
In den ersten Schuljahren zeigt er sich als stilles, schüchternes, nach innen gekehrtes Kind. Er ist ein wenig scheu und ängstlich, außerdem auffallend träumerisch. Dem widerspricht nicht der bereits hell auflodernde Ehrgeiz. Das Verhältnis zur Schule ist rein äußerlich schon dadurch erheblich gestört, dass die Familie in jenen Jahren sehr häufig umzieht. Stuttgart – Basel – Den Haag – Kopenhagen – Berlin, so heißen die Stationen von 1915 bis 1929.
Besondere Schulerlebnisse Weizsäckers sind nicht überliefert, vielleicht mit einer Ausnahme: Sein Gespräch mit dem sehr verehrten Lehrer Hilmer von der St. Petri-Realschule in Kopenhagen, der ihm zusätzlich Privatunterricht in Latein und Griechisch erteilte. Weizsäcker selbst berichtete von einem „Begeisterungsausbruch“ während einer solchen privaten Stunde. Anlass dazu war sein gedankliches Abschweifen, nämlich zum Lieblingsthema Weltall. – Diese Größe, dieses Wunder! – Wir können sein wirkliches Gefühl weder nachempfinden noch korrekt wiedergeben. Doch Hilmer ging sogleich darauf ein und ermahnte den Schüler: „Aber vergiss es nie, größer als das Weltall ist dein Geist, Carl Friedrich v. Weizsäcker, der das Weltall zu denken vermag.“ 4 Weizsäcker zitiert diesen Satz in seiner „Selbstdarstellung“, abgedruckt ganz am Ende des Buches „Der Garten des Menschlichen“. Ob der Lehrer seinen jungen Schüler wirklich derart formell mit dem vollen Namen ansprach und ob dieser Satz, aus der Erinnerung hervorgeholt, tatsächlich so formuliert war, ist heute unerheblich. – Der Geist ist größer noch als das Weltall. – Diese Aussage versinnbildlicht auf wunderbare Weise Weizsäckers gesamtes Lebenswerk, seinen persönlichen geistigen Kosmos.
Das Abitur legte Weizsäcker in Berlin ab, wo er 1929 auch das Studium aufnahm. Seine Entwicklung zum Wissenschaftler wird im Kapitel „Physik“ näher beschrieben.5
Viele Anmerkungen, auch einige kleine Geschichten und Anekdoten zur Persönlichkeit Weizsäckers, sind an anderer Stelle dieser Studie eingeflochten. Es sei diesbezüglich vor allem auf das Kapitel „Religion“ verwiesen, doch findet sich reichhaltiges Material auch in Teilen der „Politik“-Kapitel. Dieses Extra-Material ist allerdings nicht in voller Breite dargelegt, sondern es wird meist auf den Kern der Aussage reduziert. Weizsäckers Denken hat erst derjenige wirklich verstanden, der es in eigenen Worten ausdrücken kann. Es geht daher hier primär um das reine Verständnis der Aussagen und darum, auch die komplexeren Gedankengänge in ihrer eigenständigen Logik nachvollziehen zu können. Selbst wenn sich eine Deutung ein wenig vom Original entfernt, bleibt der Sinngehalt das Entscheidende. Statt den allerfeinsten Nuancen des Gesagten nachzuspüren, ist es sinnvoller, zunächst einmal die Bedeutung als solche zu erfassen. Vereinfachung in Maßen kann das effektiv Gemeinte, das zu Sagende, sogar wesentlich deutlicher machen als es einzelne Textpassagen vermögen, die viele Einzelaussagen enthalten, ohne jedoch eine Quintessenz aufzuzeigen. Weizsäcker selbst zieht keine Resümees. Man muss dies nachholen, um seine Gedanken einzufangen, sie geistig zu verarbeiten und vielleicht auch einen praktischen Nutzen daraus zu ziehen.
Die lebensentscheidende Begegnung mit Werner Heisenberg ist im Kapitel „Physik“ nacherzählt, denn dort ist sie thematisch besser aufgehoben. Zu dem genialen Physiker (Nobelpreisträger des Jahres 1932) sollte sich eine lebenslange Freundschaft entwickeln.
Lebenslauf | |
Carl Friedrich von Weizsäcker, geb. am 28. Juni 1912 in Kiel. Seit 1937 verheiratet mit
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