Wegmann zog eine vieldeutige Grimasse. »Ich schlage vor, wir fordern die technische Abteilung an. Die sollen mal mit einem Endoskop hineinschauen. Nur so können wir feststellen, welches Ausmaß der Hohlraum hat. So wild wird’s schon nicht sein. Wahrscheinlich reicht es, wenn wir Beton hineingießen.«
»Hoffentlich haben Sie Recht«, erwiderte Braun nachdenklich. Er hatte so seine Erfahrungen mit unerwünschten Überraschungen, die in alten Gemäuern stecken konnten.
Wegmann zog sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. »Vielleicht haben wir Glück, und sie haben einen Einsatztrupp frei.«
Es dauerte nur eine halbe Stunde, dann kam ein Wagen des technischen Dienstes auf die Brücke gefahren. Die Touristen starrten das Fahrzeug neugierig an. Die Einheimischen reagierten meist verärgert, weil auf der Brücke ein Fahrverbot für Kraftfahrzeuge bestand.
»Jetzt müsse die mit ihre stinkende Dreckskarre scho uff die Alte Meebrücke fahr! Zu faul zum Läffe!«, erboste sich ein alter Würzburger, fand aber beim Publikum wenig Verständnis, weil die umstehenden Touristen ihn schlichtweg nicht verstanden.
Sehr schnell hatte sich um die Figur des heiligen Kilian eine Gruppe Neugieriger versammelt, die erstaunt beobachtete, wie die Männer durch die Klappe im Boden der Brücke verschwanden – und wenig später wieder auf dem Eisbrecher auftauchten. Kaum ein Würzburger wusste, dass die Alte Mainbrücke mit einer Anzahl von Kammern und Hohlräumen versehen war.
Einer der Techniker führte den langen Schlauch eines Endoskops in einen hohlen, teleskopähnlichen Stock ein, den er dann in den Spalt schob. »Eigene Entwicklung«, kommentierte er stolz, »weil sich der Schlauch sonst verbiegt.«
Das Gerät war an der Spitze mit einem Objektiv und einer Minileuchte ausgestattet. Am anderen Ende befand sich ein Griff mit integrierter Optik, die sich der Mann nun vor die Augen hielt.
Suchend bewegte der Techniker das Endoskop auf und ab. Plötzlich riss er seinen Kopf in die Höhe und schaute seine Kollegen verwundert an. Ungläubig presste er sein Auge nochmals an das Gerät.
»Das … das gibt es doch nicht!«, stieß er schließlich verdattert hervor.
»Was gibt es nicht?«, wollte Braun wissen. »Ist der Schaden so gravierend? – Jetzt reden Sie schon, Mann, und lassen Sie sich nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!« Braun wurde langsam ungeduldig.
Statt einer Antwort starrte der Techniker nochmals durch das Endoskop, dann reichte er es an Braun weiter. »Schauen Sie selbst! Ich habe das Gefühl, ich sehe schon am hellichten Tag Gespenster!«
Es dauerte einen Augenblick, ehe sich der Beamte mit dem Endoskop zurechtfand. Dann verharrte er lange Zeit in der gleichen Stellung. Schließlich nahm er es langsam vom Auge und reichte es wortlos an Wegmann weiter, der nun seinerseits einen Blick riskierte.
»Verdammt, das gibt’s doch nicht!«, entfuhr es ihm. Langsam nahm er das Gerät herunter. Auch er wirkte mit einem Mal betroffen. »Wenn Ihr auch einen Totenschädel gesehen habt, muss ich wenigstens nicht annehmen, dass ich den Verstand verloren habe.«
Braun griff sich das Gerät und schaute erneut hindurch. Wieder bewegte er den Stab in alle Richtungen. »Soweit ich erkennen kann, handelt es sich nicht nur um einen Schädel, sondern um ein ganzes Skelett.«
»Was machen wir jetzt?«, wollte Wegmann wissen und sah seinen Chef ratsuchend an.
Der zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, ein solcher Fall ist mir noch nicht untergekommen. Mir ist auch keine Vorschrift bekannt, wie zu verfahren ist, wenn man in einem Brückenpfeiler einen Toten findet.«
»Ich schlage vor, dass wir ganz einfach die Polizei verständigen!« Wegmann versuchte den Fund nüchtern zu betrachten. »Die sind für Mord und Totschlag wohl zuständig.«
Braun sah seinen Mitarbeiter verwundert an. »Wie kommen Sie auf Mord? Können Sie mir verraten, wie ein Mörder einen Menschen in diesen Brückenpfeiler hineinbekommen haben soll? An dieser Stelle des Pfeilers ist sicher seit ein paar hundert Jahren nichts mehr verändert worden! … Aber gut, holen wir die Polizei. Mir fällt im Augenblick auch keine andere Lösung ein. Sollen die sich mit dem Toten herumschlagen. Für uns heißt das jedenfalls, dass hier vorerst nichts verändert werden darf.« Er griff zu seinem Mobiltelefon und wählte die Notrufnummer.
Oben auf der Brücke hatten einige Passanten das Wort »Toter« und »Skelett« aufgeschnappt. Sofort machten diese Worte die Runde und sorgten für ein erregtes Gemurmel.
Wie es der Zufall wollte, war unter den Neugierigen auch Christian Schöpf-Kelle, freier Mitarbeiter der Würzburger MAIN-POSTILLE und immer hungrig nach Sensationen. Er war gerade auf dem Weg zum Brückenbäck gewesen, um dort mit einem Freund zu frühstücken. Dabei war ihm die Menschenansammlung um die Kiliansfigur aufgefallen. Zuerst dachte er, es sei nur eine Gruppe Touristen, bis ihn sein journalistischer Instinkt einen Blick über die Brüstung hatte werfen lassen.
Vergessen war das Frühstück, vergessen der wartende Kumpel. Sein Riecher sagte Schöpf-Kelle, dass hier eine Story schlummerte – und zwar, wie er dem Gerede der herumstehenden Menschen zu entnehmen glaubte, keine alltägliche. Jedenfalls würde er sich keinen Meter von hier entfernen, ehe er nicht wusste, was Sache war. Er hoffte auf eine Story, die für die Redaktion Würzburg Stadt geeignet war. Also eine Geschichte, die mitten hinein ins Zentrum der Aufmerksamkeit mainfränkischer Zeitungsleser zielte. Gut für sein Image!
Es dauerte nur eine knappe Viertelstunde, bis ein ziviler Pkw auf die Brücke rollte und hinter dem Wagen des technischen Dienstes zum Stehen kam. Zwei Männer stiegen aus. Schöpf-Kelle erkannte den älteren der beiden sofort: Sebastian Krämer, Leiter der Würzburger Mordkommission. Sein Puls beschleunigte sich! Wie er Krämer kannte, würde der sich nicht wegen einer Kleinigkeit hierherbemühen.
Krämer schoss einen ärgerlichen Blick auf die Menschenansammlung ab, dann sagte er etwas zu seinem Kollegen, der nur mit den Schultern zuckte.
In dem Augenblick fuhr ein Streifenwagen über das Kopfsteinpflaster der Brücke und stoppte hinter dem Zivilfahrzeug. Zwei Uniformierte stiegen aus.
»Sperren Sie sofort den Tatort ab!«, ordnete der Leiter der Mordkommission an, kaum dass die beiden Streifenpolizisten die Brücke betreten hatten. Dabei machte er eine herrische Handbewegung in Richtung der Menge. »Die Leute haben hier nichts zu suchen! Am besten machen Sie gleich die ganze Brücke dicht. In der nächsten Stunde möchte ich hier keinen Durchgangsverkehr haben!«
Die beiden Beamten waren nicht gerade begeistert, begannen aber dann doch damit, die Schaulustigen freundlich, aber bestimmt von der Brücke zu weisen.
»Wat is dat dann für ’n Fatzke!«, empörte sich ein Tourist, der seine Herkunft aus dem Rheinland nicht verhehlen konnte.
»Das ist der Erste Kriminalhauptkommissar Krämer, der Leiter der Würzburger Mordkommission«, erklärte einer der uniformierten Beamten mit gesenkter Stimme, wobei sein Tonfall nicht unbedingt auf große Hochachtung schließen ließ.
Christian Schöpf-Kelle wartete die Aufforderung der Beamten nicht ab. Er verließ eilig die Brücke und stieg über eine nahe Treppe hinunter zum Mainufer. Von seinem neuen Platz aus hatte er eine wunderbare Sicht auf den Brückenpfeiler. Viel besser als von oben.
Der Schall wurde von der Wasseroberfläche des Flusses so gut getragen, dass er fast jedes Wort verstehen konnte, das die Männer drüben am Pfeiler sprachen. Diskret zog Schöpf-Kelle seine Digitalkamera aus der Umhängetasche. Mit dem Zoom holte er das Geschehen am Brückenpfeiler dicht heran. Unauffällig schoss der Journalist einige Bilder. Man wusste nie, wofür ein paar schnelle Schnappschüsse später gut sein konnten.
Nachdem der Leiter der Mordkommission lange durch das Endoskop geblickt hatte, erklärte er knapp: »Meine Herren, wir müssen den Pfeiler auf jeden Fall aufreißen, damit wir an die Leiche kommen!«
»Sind