Im Aufruf an seine Vorgesetzten vom 25. April 1941 diagnostiziert Henri de Lubac das „virus hitlérien“ in einer doppelten, zersetzenden Symptomatik, dem Antisemitismus (s.u.) und der Entwürdigung des Menschen als Person.5 Gegen den Nationalsozialismus, der aus Menschen „Termiten“ mache, die gleichförmig marschieren und nur ihre Arbeit im und für den Hügel verrichten, gelte es, eine menschliche Revolution (révolution humaine) zum Leben zu erwecken. Sie müsse das Wesen der menschlichen Person sowie ihre notwendigen Bande zu den anderen Menschen und zu Gott wieder ins Zentrum der Gesellschaft rücken.6 Denn das Wesen der menschlichen Person macht nach de Lubac gerade die Spannung aus zwischen der Würde des individuellen Personseins, das in der christlichen Tradition durch die Verankerung der Seele in Gott und die Gottebenbildlichkeit beschrieben wird, und der radikalen Verwiesenheit auf die menschliche Gemeinschaft (irdisch und eschatologisch) sowie auf die Gemeinschaft mit Gott, die der Heilige Geist weitend schafft.7
Seinen Aufruf zu einer menschlichen Revolution adressiert Henri de Lubac nicht nur an Christ(inn)en und Vertreter der Kirche, sondern auch an seine Mitbürger(innen) als Franzosen. Er appelliert an Frankreich als das Volk, das aus seiner Geschichte heraus dazu berufen sei, die großen Werte und Überzeugungen der Menschen in Europa und der Welt zu vertreten, zu verbreiten und aufrechtzuerhalten (wie einst die Pariser Universität das Denken). Von hierher versteht sich die programmatische Warnung der ersten Ausgabe der Cahiers: „Frankreich, gib Acht, deine Seele nicht zu verlieren!“ Der universale (europäische) Charakter Frankreichs, den de Lubac in seinen christlichen Wurzeln verortet, entspricht in gewisser Weise der Katholizität der Kirche8: Beide schöpfen aus der Überzeugung der Einheit der Menschen und tragen zur Wiederherstellung dieser Einheit auch über Nation, Konfession oder Religion hinaus bei. Für de Lubac ist hier ebenfalls die Logik der Inkarnation erkenntnisleitend: Was die Gemeinschaft der Menschen zusammenhält, ist nämlich, biblisch gesprochen, die Liebe (charité), die das Sein Gottes selbst ist (vgl. 1 Joh 4,16). M.a.W.: Gott selbst schafft und bildet die Einheit der Menschen untereinander und mit ihm selbst.
Einheit der Hl. Schrift: „Geistig betrachtet sind wir Semiten“
Seit Anfang der Christentumsgeschichte kommen Theorien auf, die eine klare Abgrenzung eines neutestamentlichen Gottes der Liebe und eines alttestamentlichen Gesetzes- oder Rache-Gottes propagieren. Damit einher geht bei Anhängern besagter Theorien eine Zurückweisung, ja ein Bruch mit dem Judentum als der Religion des Alten Bundes. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte diese Abgrenzung in Frankreich in der sogenannten Action française eine neue Qualität erreicht, als im Gefolge der Dreyfus-Affäre nationalistische und antisemitische Ideologien prominent verbreitet wurden. Auch in katholischen Kreisen hatte die Denkart der Action française Anhänger, bis Pius XI. klarstellte, dass sie unvereinbar sei mit dem christlichen Glauben. Nichtsdestoweniger war im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs der Boden für einen christlichen Bruch mit dem Judentum abermals gesät.
Solchen Theorien gegenüber betont de Lubac stets die Einheit der Hl. Schrift. Denn das Christentum verdankt dem Judentum den Glauben an einen personalen und transzendenten Gott sowie die universale Berufung als Volk Gottes (Abraham) und dessen Einsatz für die Gerechtigkeit Gottes (Propheten): „Was bliebe von unserem christlichen Glauben, wenn man daraus den Monotheismus, den Dekalog, die Universalität, den Glauben an die Ewigkeit risse?“9 Die Liebe wäre – so de Lubac – eben zu kurz gefasst, würde man sie einfach an die Stelle einer Gerechtigkeit setzen, von der das Alte Testament erzählt und die seine Propheten anmahnen. Mehr noch: Das jüdische Erbe umfasst letztlich bereits die drei Kerntugenden Glaube (der Glaube Abrahams, das Gesetz des Mose, die Geduld des Hiob), Hoffnung (durch die Propheten, von der Sanftheit Gottes
bei Elija bis zu seiner Erhabenheit bei Jesaja) und Liebe (v.a. bei Hosea, aber auch die Gerechtigkeit bei Amos oder die Treue bei Daniel), die das „Fleisch“ (chair) des Christentums bilden – auch weil sie mit Jesus Christus, dem Juden aus dem Hause Davids, Fleisch angenommen haben.10
In seinem Brief an die Ordensoberen bezeichnet Henri de Lubac Nationalsozialismus und Antisemitismus auch als antichristliche Revolution.11 Diese Bezeichnung klingt heutigen Ohren vielleicht fremd, wenn daraus eine Gleichsetzung des Leids der beiden Religionsgemeinschaften gelesen würde. Die Stoßrichtung de Lubacs ist jedoch nicht, die Situation zu vergleichen, sondern Umdenken zu provozieren – hier seiner Vorgesetzten, aber auch insgesamt der Christ(inn)en in der Vichy-Zone: Gegen jedes Schweigen, das aus einer scheinbaren Unbeteiligtheit von Christ(inn)en gegenüber der Verfolgung und Deportation jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger, gegenüber jeder Form des Antisemitismus resultiert, zitiert de Lubac das Wort Pius’ XI.: „Geistig betrachtet sind wir Semiten.“12 Und gegen einen raumgreifenden Neopaganismus13, der das Judentum wie ein „neuer Titus“ besiegen will und das Christentum arischgermanisch vereinnahmt und korrumpiert14, markiert de Lubac die Einheit von Christentum und Judentum aus der Einheit der Schrift: „Wir weisen als Blödsinn und Blasphemie den Widerspruch zurück, den man zwischen einem ‚semitischen Alten‘ und einem ‚arischen Neuen Testament‘ zu etablieren versucht.“15
Der Gott des Alten Testaments steht in derselben Spannung, die ihm auch im Neuen Testament eigen ist: der Spannung von einem starken Rettergott, auf dem die Hoffnungen des leidenden Volkes ruhen und den sie manchmal mit Rachegedanken allzu menschlich beschreiben, und dem geduldigen und mitleidenden Gott „im verschwebenden Schweigen“ (1 Kön 19,12 nach M. Buber) an der Seite der Kleinen und Ängstlichen. Im Neuen Testament zeigt sich diese Spannung im ohnmächtig-mächtigen Leben Jesu zwischen Kreuz und Auferstehung, Geburt und Himmelfahrt. Entsprechend führt jede Frontstellung theologisch ins Leere; die neopagane Versuchung des Christentums zielt auf dessen Überwindung.
In seinen späteren Texten zur Schrifthermeneutik und zur Offenbarungskonstitution Dei verbum schärft de Lubac die beschriebene Einheit der Schrift weiter zu: Es ist Christus selbst, der als Jude und Ereignis der Selbstmitteilung Gottes, inklusiver Höhepunkt der Offenbarung, das Prinzip dieser Einheit ist; mit ihm sind Jüdinnen und Juden unsere geistigen Geschwister und in ihm mit uns und Gott verbunden. Der geistige Sinn der Schrift lässt diese Einheit und ihre existentiellen Konsequenzen (moralischer, anagogischer Schriftsinn) aus dem Buchstaben erkennen – mit dem Konzil gesprochen: Im Licht der Schrift lassen sich die Zeichen der Zeit lesen. Von Christus her ist es Aufgabe der Kirche und aller Christ(inn)en, das Unrecht an den älteren Geschwistern anzuklagen. Dieser Verantwortung hat sich Henri de Lubac gestellt, wie auch das Zeugnis des französischen Gelehrten und späteren israelischen Politikers André Chouraqui unterstreicht. Er berichtet von einem Brief, in dem de Lubac ihm seine Solidarität und Unterstützung zusagte: „Wenn dieser durch die Zensur abgefangen oder bei mir entdeckt worden wäre, hätte er seinen Unterzeichner die Deportation kosten können.“16
Berufung der Kirche in der Welt: „Niemand ist Christ für sich allein.“
Die Vichy-Zeit stellte die Kirche in der unbesetzten Zone vor eine Herausforderung: Folgt man den Anweisungen der Staatsgewalt unter Führung Pétains oder widersetzt man sich bis hin zum offenen Widerstand? Die Zurückhaltung vieler Verantwortlicher bis hin zur Unterstützung Pétains zeigt eine klare Tendenz: „Es gibt heute Christen, die zuerst das Materielle bewahren wollen: die Schulen und Kunstwerke aller Art. Aber was ist das alles wert – in den Augen Gottes –, wenn es nicht die Inkarnation des Geistes seines Sohnes ist?“17
Hier entzündet sich die Kritik de Lubacs, die er in einem Akt des Ungehorsams 1941 zuerst an seine Ordensoberen richtet: Es darf nicht geschwiegen werden. Weder ist die „paix hitlérienne“ ein echter Friede noch ist Gehorsam der weltlichen Macht gegenüber geboten; er gilt vielmehr Gott und dem Gewissen gegenüber. Es gehört zur Berufung der Kirche und jedes einzelnen Christen bzw. jeder Christin, für die Einheit der Menschen mit Gott und untereinander Zeugnis abzulegen: „Jeder trägt immer seinen kleinen Teil an den gemeinsamen großen Verantwortungen, und (…) in besonderen Krisenzeiten (…) ist es für jeden