Trotzdem habe ich meinen Vater angerufen, damit er uns abholt. Es war mein Glück, dass er das um den Baum gewickelte Wrack des Autos zuerst gesehen hat, bevor er mich anschreien konnte. Er muss rückblickend solch eine Angst gehabt haben, was uns hätte passieren können, dass er erst mal ruhig blieb. Doch am nächsten Tag ließ das Donnerwetter unserer Eltern nicht auf sich warten. Und natürlich mussten wir die Rechnung unserer riesigen Dummheit begleichen. Thibault hat den ganzen Sommer unbezahlt gearbeitet, um die Schulden bei seinen Eltern abzubezahlen. Mit mir zeigte sein Vater sich etwas gnädiger und behielt nur einen Teil meines Lohns ein … Dafür wurde uns nur eine überwachte Freiheit zugestanden – und zwar jedem für sich: Der eine ackerte vormittags, der andere am Nachmittag. Abends ausgehen durften wir kaum noch …
Den Tod vor Augen
So zog sich der Sommer in die Länge, bis auf eine kleine Pause für das Trainingslager in den Cevennen. Ich wurde gut aufgenommen und fand leicht meinen Platz in der Gruppe. Ich freundete mich recht schnell mit Jean-Guillaume Béatrix an, aber auch mit Marie-Laure Brunet, die wie ich aus Font-Romeu kamen.
Mein Start in Villard im September gestaltete sich etwas komplizierter. Hier musste ich mich in der Gruppe erst zurechtfinden. Ich teilte mir ein Zimmer im Internat mit drei Abfahrtsskifahrern, und zum Glück war die Stimmung hier gut. Am Wochenende ging ich zu meiner Gastfamilie, Chantal und Bruno Dusser, die auch schon Simon beherbergt hatten, bevor er seine eigene Wohnung hatte. Unter der Woche war ich mit ihrer Tochter Marine in der Schule. Mit ihnen fühlte ich mich fast wie in einer Familie. Chantal kommt auch aus den Pyrenäen, und Bruno arbeitet bei Rossignol als Leiter des Skilanglaufbereichs. Wir lebten also in der gleichen Welt …
Ich war nun ein Sportler unter vielen. Die Trainingseinheiten nahmen immer mehr zu, und ich machte gute Fortschritte. Nichts deutete darauf hin, dass ich dem Tod nur wenige Wochen nach dem Autounfall ein zweites Mal knapp entrinnen würde …
Im Oktober fuhren wir mit dem ersten Schnee ins Trainingslager nach Alpe d’Huez. Thierry Dusserre hatte für uns eine Schießeinheit vorgesehen, aber die stürmischen Wetterbedingungen zwangen uns zum fluchtartigen Rückzug in eine Turnhalle.
Wir mussten Schießbewegungen imitieren – leer, ohne Patronen im Magazin, als »Trockentraining«. Dabei arbeitet man an den Automatismen und an der Aufstellung: Laden mit geschlossenen Augen, es werden unermüdlich die Handgriffe wiederholt, die wir im Wettkampf ohne das geringste Zögern ausführen müssen.
Ich erinnere mich daran, dass Thierry Folgendes sagte: »Stellt euch vor, ihr seid beim ersten Rennen des Winters, bei der Qualifikation für den Europacup, ihr kommt im Schießstand an, atmet durch, nehmt euer Gewehr, steckt das Magazin hinein, und wenn ihr bereit seid, schießt ihr.«
Wir standen vor einer verspiegelten Wand, um unsere Position perfekt visualisieren zu können, in drei Reihen. Ich stand in der ersten. Hinter mir, leicht links, ein Mädchen aus der Gruppe. Auf Anordnung von Thierry nahmen wir unsere Gewehre, setzten das Magazin ein, legten das Gewehr an und schossen. Normalerweise hätten wir jetzt nur den Ton eines leeren Stoßes hören dürfen. Ein trockenes Klacken. Ich dachte an einen schlechten Scherz, als ich den Knall hörte. Aber als ich mit den Augen nach oben ging, sah ich den gesprungenen Spiegel vor mir. Etwas oberhalb vom Abbild meines Kopfes im Spiegel …
Ich dachte sofort, dass ich Mist gebaut und eine Patrone in meinem Magazin vergessen hätte. Ich ärgerte mich schon über mich selbst, solch einen Fehler gemacht zu haben. Denn das Erste, was man beim Biathlon lernt, sind die Sicherheitsvorkehrungen bei der Handhabung einer Schusswaffe. Wenn man am Ende einer Trainingseinheit das Magazin herausnimmt, überprüft man, dass keine Patrone darin verblieben ist – dass das Schloss leer ist, wenn man es wieder schließt. Diese Handgriffe werden sehr schnell zu Automatismen, und unsere Trainer nehmen uns diesbezüglich in die Verantwortung. Ich dachte, dass ich mich falsch verhalten hätte, aber als ich das Schloss öffnete, war dort keine Patronenhülse. Der Schuss konnte sich also gar nicht aus meinem Gewehr gelöst haben. Ich drehte mich um. Das Mädchen hinter mir überprüfte gerade seine Waffe. Und dann sah ich die Szene wie in Zeitlupe, wie in einem Film: Eine Patronenhülse löst sich, fällt auf den Boden und prallt ab …
Sie hatte vergessen, ihr Magazin zu leeren, als wir den Schießstand verlassen hatten, hatte nicht gemerkt, dass eine Patrone in den Lauf geführt wurde beim Laden; sie hatte richtig geschossen, und die Patrone des Kalibers .22 ging nur wenige Zentimeter an meinem Kopf vorbei.
Zurück zum Ausgangspunkt
Abgesehen von diesem Vorfall, der mich für immer geprägt hat, ist das Jahr gut verlaufen. Sportlich gesehen übertrafen meine Fortschritte und meine Ergebnisse die Erwartungen. Ich gewann Titel im Biathlon, im Skilanglauf gehörte ich zu den französischen Top 5, und ich qualifizierte mich für die Europameisterschaften in Österreich.
Was die Schule anging, war es etwas komplizierter. Ich glaube, das Internat lag mir nicht, und wenn ich nicht meine drei Zimmergenossen gehabt hätte, hätte ich wahrscheinlich nicht das ganze Jahr durchgehalten. Die anderen Athleten meiner Altersklasse waren Externe. Sie gingen nach der Schule nach Hause zu ihren Eltern, Brüdern, Schwestern, zu ihren Freunden aus Kindertagen … Das fehlte mir.
Außerdem arbeitete ich nicht genug für die Schule. Als der Frühling begann, kam es hart auf hart. Das Ende der Wettkämpfe, die Aussicht auf eine lange Vorbereitungsphase, fast acht Monate, bevor ich mich wieder an der Konkurrenz messen konnte … Meine Freunde und meine Freundin aus Font-Romeu fehlten mir, dazu die Erinnerung an den schönen Sommer am See – all das trug dazu bei, dass ich mich zunehmend deprimiert fühlte. Ich hatte das Gefühl, meine Jugend zu verpassen.
Zudem kam es in der Gruppe zu Spannungen. Thierry war bereits auf die kommende Saison fokussiert, während wir alle erst noch etwas Dampf ablassen mussten. Und dann war da noch der Junioren-Weltmeistertitel von Simon, der mir paradoxerweise Angst einflößte: Die enorme Arbeit und die Opfer, die er für seine Leistung erbringen musste, waren mir durchaus bewusst, und ich träumte zwar selbst von solchen Erfolgen, war aber innerlich noch nicht bereit dazu, genau so viel dafür zu tun.
Dank der Brückentage im Mai konnte ich nach Hause fahren, meine Kumpels wieder treffen und in mein Leben von früher eintauchen. Dabei wurde mir klar, dass Villard, so weit weg von meinem früheren Leben, für mich der falsche Weg war. Ich wollte wieder so sein wie als Teenager, wollte mit meinen Kumpels eine ruhige Kugel schieben, im Wassersportzentrum jobben und meinen Bootsführerschein machen. Ich wollte nicht mehr all diese Opfer hinnehmen, die nötig waren, um gut vorbereitet zu sein für das erste Trainingslager im Herbst, wollte wieder einen unbeschwerten Sommer wie früher erleben! Andererseits wusste ich, dass zwei Monate Nichtstun nicht vereinbar waren mit den hohen Zielen, die ich mir gesteckt hatte. Mir wurde klar, dass es eine Diskrepanz gab zwischen dem, was ich wollte, und dem, was ich bereit war, zu geben und zu opfern, um dies zu erreichen.
Ich vertraute mich Jean-Guillaume an und einigen anderen aus der Gruppe, meinen Freunden aus den Pyrenäen und auch meinen Eltern. Es Simon zu sagen, war schon schwieriger. Ich hatte Angst, ihn zu enttäuschen. Nach dem Ende unserer Kindheit hatten wir uns nie mehr so oft gesehen wie jetzt hier in den Alpen. Obwohl jeder von uns seine eigenen Freunde und Termine hatte, verbrachten wir auch viel Zeit miteinander in Villard. Nach der Woche im Internat war ich am Wochenende bei meiner Gastfamilie, besuchte aber auch Simon regelmäßig. Nie zuvor in unserem Leben standen wir uns so nah. Ich glaube, dass auch er stolz darauf war, wenn man in der Skiwelt von den »Brüdern Fourcade« sprach.
Es traf ihn, als ich ihm ankündigte, dass ich aufhören und zurückgehen würde. Doch er hat nicht versucht, mich umzustimmen. Ich denke, er hatte es wohl schon eine Weile gespürt, dass ich an diesem Punkt war. Der Frühlingsblues ist ein bekanntes Phänomen im Skilanglauf: Sechs Monate ohne Schnee, sechs undankbare Monate des einsamen Trainings, jedenfalls fast – mit dem Wissen,