Kleine Fuge in g-Moll. Gisbert Greshake. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gisbert Greshake
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783429064358
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weiter gefragt, um keinen Verdacht zu erregen. Wenn der Tresor wirklich so groß war, würde man ihn auch finden, und irgendwas Brauchbares würde sicher drin sein.

      Aber man fand ihn nicht, so sehr man auch suchte. Sie inspizierten alle Räume, öffneten Schränke und schoben sie beiseite, brachen die Holzverkleidung einiger Wände auf, schauten hinter riesige Wandgobelins und große Gemälde und hebelten sogar den elektrischen Schaltschrank weg. Alles vergebens!

      Pepe griemelte hämisch: „Na, wo bleibt denn dein großer strategischer Wurf?“

      „Chiudi il becco! (Halt dein Maul!)“, brüllte Chicco. „Porco Giuda! (Verdammte Scheiße!). Das Ding muss es doch geben. Schauen wir noch in den Keller. Wenn wir auch da nichts finden, brech’ ich dem Palli alle Rippen im Leib. Wir nehmen dann halt ein paar andere Kleinigkeiten mit.“

      Doch siehe da! Neben der Kellertür befand sich eine weitere Tür, der innere Zugang zur Garage, der weit offen stand. Und durch diesen hindurch fiel der Blick auf die Seitenwand eines Tresors von wahrhaft gigantischen Ausmaßen: Er reichte vom Boden bis zur Decke, war über 1,50 m breit und ragte mindestens 80 Zentimeter aus der Wand, in die er hineingemauert war, heraus, so dass er insgesamt auch eine beträchtliche Tiefe haben musste. Jagdfieber ergriff die beiden Ganoven. In diesem Tresor musste doch wohl einiges zu holen sein! Und das Öffnen sollte dabei eigentlich keine allzu großen Schwierigkeiten machen.

      Die Zeiten waren vorbei, in denen man mit Schweißbrennern arbeitete. Das machte zu viel Lärm und dauerte bei Tresoren dieser Größe, deren Stahlwände und -türen normalerweise auch eine außergewöhnliche Dicke aufwiesen, viel zu lange. Auch das Knacken der Schlösser mit Nachschlüsseln, Werkzeug und Stethoskop gehörte der Vergangenheit an, jedenfalls was die neuesten Tresore anging. Im Allgemeinen hatten die nämlich ein digitales Code-Schloss, d.h. sie waren durch die Eingabe eines fünf- oder sechsstelligen, jederzeit zu variierenden Codes zu öffnen, wobei die Eingabe am Tresor-Schloss selbst oder/und mithilfe einer Art „Fernbedienung“ zu geschehen hatte. Damit man aber den Code nicht durch systematisches Durchprobieren aller nur denkbaren Möglichkeiten herausfinden konnte (was bei einem sechsstelligen kombinierten Zahlen- und Buchstaben-Code die Zahl 366, eine elfstellige Ziffer, ergab, sodass das Durchprobieren ohnehin nur mithilfe eines Computers durchgeführt werden konnte), waren Zeitsperren eingebaut. Nach drei Fehlversuchen konnte man erst nach einigen Stunden oder sogar Tagen einen neuen Versuch machen. Doch seit einigen Monaten gab es ein neues, in Amerika entwickeltes und unter kleinen und großen Ganoven sogleich weltweit verbreitetes Software-Programm, das solche Sperren überwinden konnte, indem es dem programmierten Tresorschloss nach jeweils drei Fehlversuchen den Ablauf einer langen Zeitspanne „vorgaukelte“. Man brauchte jetzt also nur noch mittels Notebook, das mit einem kleinen Sender versehen war, die 366 Möglichkeiten mit einem kleinen Verzug nach je drei Versuchen automatisch durchgehen. Das dauerte etwa zwei Stunden, und schon war der Tresor geöffnet. Sollte allerdings der Code nicht nur aus Zahlen und Buchstaben, sondern auch aus Sonderzeichen bestehen oder sollte der Code gar achtstellig sein (was vermutlich jetzt noch nicht der Fall war, womit man aber in Zukunft nach weiterer Entwicklung des besagten neuen Software-Programms sicher zu rechnen hatte), konnte bei dann gegebenen 458 Möglichkeiten, d. h. einer vierzigstelligen Zahl der ganze Vorgang dann vielleicht auch Tage in Anspruch nehmen.

      Pepe startete seinen Laptop. Beide machten sich auf eine längere Wartezeit gefasst. Doch bereits nach ungefähr 20 Minuten gab es einen leisen Knacks; der Computer hatte den richtigen Code offenbar schon erwischt. Mehr gierig als nur neugierig öffneten sie die Tür und wollten mit einer Taschenlampe den riesigen Stahlschrank ausleuchten, doch halt! … sie strauchelten beide wie auf Kommando zurück. Vor ihnen standen, an die Rückwand des Tresors gelehnt, zwei leblose menschliche Gestalten ohne Kopf, genauer: an Stelle der Köpfe sah man, in einer Art durchsichtiger Plastiktüte eingewickelt, einen absolut formlosen Brei aus Blut, Haut, Gehirnmasse, Knorpeln und Knochen. Ein grauenhafter Anblick, der bei beiden sofort einen grellen Schrei auslöste! In was war man da hineingeraten?

      „Nichts wie weg!“, schrie Pepe. Aber ehe die zwei sich zur Flucht auch nur umwenden konnten, spürten sie als Letztes, bevor sie ihr Bewusstsein verloren, einen betäubenden Geruch …

      Erstes Kapitel

      Im Vatikan brennt’s

      Sonntag, 17. Oktober bis Mittwoch, 20. Oktober

      Vicequestore Dr. Teofrasto Bustamante (den Vornamen kannte allerdings kaum jemand, da seine Freunde ihn nur mit „Bu-Bu“ oder, wenn sie ein wenig witzeln wollten, mit „Vice“ anredeten) war ein gern gesehener Gast in jenen zahlreichen wissenschaftlichen Zirkeln und Clubs, kulturbeflissenen „Salons“ und politischen Konventikeln, die es in Rom in Unmengen gibt. Man schätzte ihn nicht nur wegen seiner außergewöhnlich hohen Bildung – immerhin hatte er ein komplettes Philosophie-, Theologie- und Jurastudium mit Auszeichnung absolviert –, sondern auch aufgrund seiner exponierten, einflussreichen Stellung. Er war Behördenleiter der Kontaktstelle zwischen Vatikanstaat und italienischer Justiz und als solcher mit allen sich zwischen Kirche und Staat überschneidenden rechtlichen Fragen und kriminellen Angelegenheiten befasst. Er unterstand direkt dem italienischen Justiz- bzw. – in bestimmten Fragen – auch dem Innenministerium. Im obersten Stockwerk des „Palazzo della Giustizia“ besaß er ein eigenes selbstständiges Ufficio (Dienststelle) mit herrlichem Blick über Rom. Eine Reihe von Angestellten und Beamten waren ihm zugeordnet. „Vicequestore“ war nur sein amtlicher Titel, der ihn vom „Questore“, dem Polizeipräsidenten von Rom, mit dem er nur gelegentlich zu tun hatte, unterschied. Im offiziellen Umgang wurde er als Onorevole Signor Questore angeredet.

      Aber nicht nur hohe Bildung und vielseitige Kontakte zeichneten ihn aus, sondern auch das angenehme, gutmütige, ja geradezu „gemütliche Wesen“ eines typischen Pyknikers. Klein von Gestalt und wohlgenährt, wies er alle äußeren Merkmale auf, die Vertrauen einflößen: onkelhafte Manieren, warmherzige Stimme, ein wenig schmuddelige Kleidung, Fliege, Glatze, Oberlippenbart. Von dem her konnte man auf den ersten Blick den Eindruck von Harmlosigkeit und von eher unterentwickelten intellektuellen Fähigkeiten gewinnen. Aber dies war eine gewaltige Täuschung, auf die schon viele hereingefallen waren. Tatsächlich war Bustamante hochgescheit, ein ebenso tiefschürfender wie nüchterner Analytiker, der sowohl komplizierteste Rechtsprobleme wie auch schwierigste Kriminalfälle zu lösen verstand. Aber gerade weil er diese Fähigkeiten völlig zu verstecken wusste und stattdessen den Typ eines freundlich-mitfühlenden guten Nachbarn oder auch Stammtischkumpanen hervorkehrte, sah man ihn gern bei gesellschaftlichen Ereignissen, Veranstaltungen und „Salons“ als Gast.

      Heute, am Sonntagabend, war er zu einem Clubabend bei Professor Ivan Pacelli, einem weitläufigen Verwandten (Urgroßneffen) des Pacelli-Papstes Pius‘ XII. und Lehrstuhlinhaber am Institut für Gerichtsmedizin des römischen Klinikums, eingeladen. Mit ihm hatte der Questore schon oft zusammengearbeitet, sehr erfolgreich sogar, auch wenn man den Professore genau so wie Bu-Bu ständig unterschätzte. Denn Pacelli war von fast zwergwüchsiger Gestalt mit einem viel zu langgezogenen Kopf, dessen Übermaß noch von riesigen, weit abstehenden Ohren und einem gewaltigen Backenbart unterstrichen wurde; dazu kam ein struppiger Haarwuchs, den ein in seinem Verlauf unklarer Poposcheitel auch nicht recht bändigen konnte. Kurz: Man war geneigt, Professor Pacelli eher für einen Komiker oder Clown als für einen hochkarätigen, auch international äußerst angesehenen Wissenschaftler zu halten.

      Er lebte mit seiner Frau zusammen, die ein fast ebenso exzentrisches Aussehen hatte wie er selbst. Sie überragte ihn um anderthalb Kopflängen. Ihr bereits schlohweißes Haar war hinten zu einer „Glaubensfrucht“ zusammengebunden (so nannten man den vor allem bei deutschen Pietisten verbreiteten, überaus „sittsam“ wirkenden Nackenknoten). Sie war stets mit einer hochgeschlossenen weißen Bluse, über der irgendetwas „Fummeliges“, ein bunter Schal oder eine riesige Kette, hing, bekleidet; aber unter dem bis weit über die Knie hinabreichenden altmodischen Faltenrock ragte völlig stilwidrig eine speckige Jeanshose heraus, die in zwei unsäglich abgetragene Pantinen überging. Dazu trug sie zwei blechern aussehende Ohrringe, die fast bis auf die Schultern herabhingen und dadurch ihr Hörorgan nur auf andere Weise unterstrichen als die zum steten Lauschangriff ausgefahrenen Ohrmuscheln ihres Gatten. Vor ihrer Heirat war sie eine bekannte Atomphysikerin gewesen. Da sie aber Kinder haben wollten,