Christentum im Kapitalismus. Rainer Bucher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Bucher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429064389
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      Überwachen und Bewachen, Kontrolle und Schutz gehen in der Pastoralmacht eine ganz eigene und unlösbare Symbiose ein. Die Aspekte von Versorgung und Behütung einerseits sowie Disziplinierung und Bewachung andererseits finden zuerst im Bekenntnis bei der Taufe, schließlich in Struktur und Praxis der nach und nach eingeführten individuellen Beichte ihren zentralen Ort. Das Wahrsprechen des eigenen Lebens in Bekenntnis und Beichte ist eine Form des Austausches zwischen Hirt und Herde, die in besonderer Weise von den beiden Polen des Strafens und Belohnens geprägt ist und um einen Diskurs des Geständnisses und des Wissens kreist.

      Im Geständnis des Pastorierten zur Wahrheit seines Lebens gegenüber der Gemeinde, später gegenüber dem Pastor, geht es um alles: um das richtige Leben hier und das ewige Heil dort. Es geht buchstäblich um Leben und Tod. „Wir müssen“, so Foucault, „unablässig belegen, was wir sind. Wir müssen uns selbst überwachen, in uns die Wahrheit hervorholen und denjenigen darbieten, die uns beobachten, die uns überwachen, die uns beurteilen und die uns führen, wir müssen den Hirten also die Wahrheit dessen, was wir sind, offenbaren.“4 Das ist die Voraussetzung der Abtötung („Mortifikation“) des alten Ichs, des Ringens mit dem „Anderen in sich“. „Uns mortifizieren und mit dem Anderen ringen“: Mit der „Einführung dieser beiden Komponenten“ durch das Christentum, „die der antiken Kultur völlig fremd“ gewesen seien, bewege sich „das Problem der Subjektivität, das Thema der Subjektivität und [der Verbindung] Subjektivität – Wahrheit [von] der antiken Kultur vollständig weg“5.

      Die Pastoralmacht muss möglichst viel, eigentlich alles vom Leben der Pastorierten wissen, der Pastorierte daher tendenziell alles von seinem Leben selbst erkunden, ausleuchten, diskursivieren und gestehen. „Das Christentum gewährleistet das Heil eines jeden, indem es bestätigt, dass er tatsächlich ganz anders geworden ist. Die Beziehung Regierung der Menschen/Manifestation der Wahrheit ist vollkommen neu organisiert. (…) Tatsächlich regiert das Christentum, indem es die Frage der Wahrheit in Bezug auf das Anderswerden eines jeden stellt.“6

      Für Foucault schlägt in dieser Selbstthematisierung, im Geständnis der Wahrheit über sich, die Geburtsstunde des modernen Subjekts. Zweierlei macht es aus: die Dopplung von Unterwerfung (sujet) und Selbstbewusstwerdung des Eigenen als starke „Subjektivität“ sowie der dauernde Zwang zu Selbstbeobachtung und Selbstthematisierung zum Zwecke der Austreibung des „Anderen in sich“, also zur – im Christentum: moralischen – Selbstoptimierung. Die neue Machtform des Pastorats koppelt Wissen, Macht und Subjektivität in einer ganz spezifischen Weise. Das ist es, was Foucault an ihr interessiert, denn diese Kopplung hat nicht nur einen christlichen Ursprung und ihre spezifische Geschichte im Christentum, sondern eine Folgewirksamkeit weit über das verfasste Christentum hinaus.

      Denn die Pastoralmacht, vom Christentum und seiner „Kirche“ (besser: seinen „Kirchen“) entwickelt und eingesetzt, wandert, so Foucault, in der Neuzeit nach und nach aus dem Christentum aus, diffundiert in vielfältige andere Institutionen, vor allem zum nun entstehenden modernen Staat. Er lernt vom Christentum, wie man Menschen regiert. Foucault analysiert diese Prozesse in seinem Spätwerk unter dem von ihm geprägten Begriff der Gouvernementalität.

      Foucault versteht darunter „dreierlei“: zum einen „die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat“7. Dann fällt darunter die „Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den man als ‚Regierung‘ bezeichnen kann, gegenüber allen anderen – Souveränität, Disziplin – geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zur Folge gehabt hat“8. Drittens aber versteht Foucault „unter Gouvernementalität den Vorgang oder eher das Ergebnis des Vorgangs …, durch den der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalters, der im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat geworden ist, sich Schritt für Schritt ‚gouvernementalisiert‘ hat“9.

      Der Staat übernimmt nach und nach Überwachen und Bewachen, Sorge und Kontrolle: Die vom Christentum entwickelten Regierungstechniken „säkularisieren“ sich. Die neuzeitliche Gouvernementalität hat mithin, so Foucault, ein „archaische(s) Vorbild“: das „christliche( ) Pastorat( )“.10 Dieses christliche Pastorat verbindet sich im modernen Staat mit anderen, vom Staat selbst entwickelten Regierungstechniken: „Das Pastorat, die neue diplomatisch-militärische Technik und schließlich die Policey sind meines Erachtens die drei großen Elemente gewesen, von denen ausgehend dieses fundamentale Phänomen in der Geschichte des Abendlandes zustande kommen konnte, das die Gouvernementalisierung des Staates gewesen ist.“11 Der Staat selbst ist denn auch „nichts anderes als der bewegliche Effekt eines Regimes vielfältiger Gouvernementalität“12, so Foucault. Klaus Lemke hält fest: „Foucaults Regierungsanalyse liegt die historische Annahme zugrunde, daß die pastoralen Führungstechniken Subjektivierungsformen hervorbrachten, auf denen der moderne Staat und die kapitalistische Gesellschaft aufbauten.“13

      Freilich bleibt ein Unterschied. Die „Regierung von Menschen“ fordert im Unterschied zur christlichen „Regierung der Seelen“ eine eigene, neue Reflexion auf ihre Voraussetzungen, Gegenstände und Ziele. Das ist die Geburtsstunde der „politischen Vernunft“ als eines Begründung- und Orientierungskonzepts jenseits theologischer Prinzipien oder auch individueller Interessen eines Fürsten. Die Säkularisierung der Pastoralmacht betrifft also nicht nur ihre Trägerinstitution, sondern auch ihre Ziele und die Diskurse ihrer Legitimation und Konzeption. Die zentralen Begriffe kirchlicher Pastoralmacht – etwa Heil, Glück, Erlösung – werden dabei nicht ausgetauscht, vielmehr grundlegend neu interpretiert.

      Das Ergebnis ist eine Machtformation, die eine in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften bislang unerreichte und ungemein erfolgreiche Kombination von Individualisierungstechniken und Totalisierungsverfahren realisiert, und das innerhalb ein und derselben politischen Struktur. Der moderne abendländische Staat integriert die alte christliche Machttechnik der Pastoralmacht in eine neue, effektive politische Form. Die aktuellen, staatlichen wie kommerziellen Überwachungskonglomerate, so wird man Foucault weiterführen können, treiben diese Doppelbewegung von Individualisierung und Totalisierung auf eine neue Spitze.14 Was ist der Beichtstuhl gegen die NSA oder Facebook und Google? „In gewisser Hinsicht kann man den modernen Staat als eine Individualisierungs-Matrix oder eine neue Form der Pastoralmacht ansehen.“15

      Die Dopplung von unterworfenem sujet und selbstbewusstem Subjekt verschiebt sich unter der Dominanz der aktuell herrschenden (neo-)liberalen Konzepte immer mehr in Richtung des Pathos eines „freien“ Subjekts. „Wir glauben heute, dass wir kein unterworfenes Subjekt, sondern ein freies, sich immer neu entwerfendes, neu erfindendes Projekt sind“, so Byung-Chul Hans an Foucault anknüpfende Analyse. Sie beschreibt, was neuerdings passiert. „Dieser Übergang vom Subjekt zum Projekt wird vom Gefühl der Freiheit begleitet. Nun erweist sich dieses Projekt selbst als eine Zwangsfigur, sogar als effizientere Form der Subjektivierung und Unterwerfung.“16

      Denn der aktuell dominierende (Neo-)Liberalismus verwischt die Differenz von Hirten und Schaf, das nun zum „Hirten seiner selbst“ wird oder mindestens werden soll. Das Subjekt wird immer stärker sich selbst gegenüber rechenschaftspflichtig, wird verantwortlich dafür gemacht, seine selbst gesteckten Ziele und darin Zufriedenheit zu erreichen. Inwieweit das Subjekt dennoch weiterhin auch Objekt des Regierens bleibt, obwohl oder gerade weil und indem es sich selbst zum Gegenstand und Mittel der Regierungspraktiken macht, wird noch zu betrachten sein.

      2.

      Wie werden wir regiert? Einerseits sind da die fürsorgliche Pastoralmacht des Staates, sein Recht und seine Überwachungskapazitäten, seine Fürsorge und seine Sanktionsmacht, andererseits aber wirkt da in und hinter all dem die subtile Steuerungstechnik des Kapitalismus. Der aber steuert nicht primär über Gehorsam, auch nicht zuerst über das Pastoralmachtdoppel von Bewachen und