Biblisch: Die Bibel beschreibt den Menschen in zahlreichen Erzählungen mit all seinen Problemen, Schwächen und Gefühlen – aber auch mit seinen Hoffnungen, Sehnsüchten und Fähigkeiten. Mit den biblischen Personen können wir uns identifizieren und so Anregungen für unseren eigenen Weg finden. Die biblischen Erzählungen zeigen Wege auf, Antworten auf Lebensfragen in der Auseinandersetzung mit Gott zu suchen. Denn die Bibel ist das Buch der Geschichte Gottes mit den Menschen und der Geschichten der Menschen miteinander und mit Gott. Diese Geschichten zeigen das Leben mit seinen Verheißungen und Verletzungen, mit Schuld, Vergebung, Heilung und Versöhnung.
Ignatianisch: Ignatius von Loyola war ein Meister der Spiritualität und der psychologischen Intuition. Sein Exerzitienbuch (abgekürzt EB),1 seine Autobiographie »Bericht des Pilgers« (BP)2 und die darin vorgestellten Methoden, zu beten und zu meditieren, helfen, das eigene Leben zu ordnen und ein freier und liebender Mensch zu werden, der sich am Wort Gottes ausrichtet. Sie können auch auf dem Vergebensweg sehr hilfreich sein.
Wir (die Autoren) denken, dass Sie sich als Leserin oder Leser dieses Buches vermutlich folgende oder ähnliche Fragen stellen:
• Vergeben, wozu denn eigentlich? Was habe ich dann davon?
• Ich würde ja gerne vergeben, aber wie soll denn das funktionieren?
• Und wie mache ich das nun konkret?
Diese Fragen erläutern wir und geben praktische Hinweise, die Sie direkt umsetzen können. Dazu verwenden wir in diesem Buch zwei Sprachweisen. Wir nutzen eine allgemein beschreibende Sprache, um die Hintergründe darzustellen. Dabei verwenden wir sowohl die männliche als auch die weibliche Form, um darauf aufmerksam zu machen, dass jeweils beide Geschlechter mitgemeint sind und die dargestellten Verhaltensweisen auf alle Geschlechter zutreffen. Dort wo wir hingegen die konkreten Handlungsschritte vorstellen, nutzen wir die Ich-Form.
Für den geistlichen Weg finden Sie passende Bibelstellen, einige Meditationsimpulse und eine ignatianische Meditationsanleitung. Die Impulse fokussieren auf ausgewählte Aspekte des Vergebensprozesses (andere Aspekte lassen wir hier bewusst außer Acht). Wir sprechen dabei von »Vergeben«, wenn wir den Prozess meinen, und von »Vergebung«, wenn es um das Geschenk der Vergebung geht. Es gibt ein weites Spektrum von Situationen, die ein Vergeben erforderlich machen können. Das eine Extrem sind Situationen, wo Unbekannte einem Opfer Unrecht und Schaden zugefügt haben. Das andere Extrem stellen Situationen dar, die so komplex und verworren sind, dass für Außenstehende kaum eindeutig ist, wer Täter und wer Opfer ist. In solchen Situationen bedürfen dann beide der Vergebung. Auch das Spektrum der Verluste ist sehr unterschiedlich: Auf der einen Seite kann es zum Verlust von Angehörigen oder von Lebensfähigkeit und wichtigen Beziehung gekommen sein, auf der anderen Seite können Kränkungen und mangelnde Liebe stehen. Deshalb verlaufen Vergebensprozesse sehr unterschiedlich und müssen jeweils an die individuelle Situation angepasst werden.
Alles, was wir hier darstellen, sind daher nur Vorschläge, die auf dem Weg des Vergebens hilfreich sein können. Aus verschiedenen Elementen können Sie diejenigen auswählen, die Sie für sich und Ihren Prozess als hilfreich erachten.
2. Was ist Vergeben?
Wenn wir in Kursen über »Vergeben« sprechen, erleben wir, dass es sehr unterschiedliche Vorstellungen davon gibt. Dabei mischen sich verschiedene ähnliche Konzepte – verzeihen, entschuldigen, vergeben und versöhnen. Früher wurde Vergeben und Verzeihen sprachlich nahezu gleichbedeutend benutzt. Heute wird Verzeihen eher im Sinne von »um Entschuldigung bitten« verwendet. Da das Wort verzeihen durchaus mehrdeutig ist, verwenden wir es in diesem Buch gar nicht.
Auch Entschuldigen und Vergeben werden heute sprachlich zum Teil gleichbedeutend eingesetzt. Im eigentlichen Sinne bittet jedoch ein Täter das Opfer um Entschuldigung – also um die Entfernung der Schuld. Für viele Opfer ist diese Bitte ein langgehegter Traum, der oft nicht in Erfüllung geht.
Leider wird der Begriff der Entschuldigung in der Erziehung immer wieder als Druckmittel verwendet. Eltern oder Erzieher fordern von einem der Kinder, dass es »sich entschuldigt«, und vom anderen Kind, dass diese Entschuldigung angenommen wird. Oft wird dann auch noch gefordert, dass die Kinder sich hinterher »vertragen sollen«. Hierbei kann es sich um ein erzieherisches Druckmittel handeln, das den Erwachsenen schnelle Ruhe verschaffen soll. Solche Situationen haben wenig mit Vergeben oder Versöhnen zu tun. Eine Entschuldigung ist also ein zwischenmenschlicher Prozess. Vergebung ist jedoch nicht von einer Entschuldigung abhängig (eine kurze Anleitung für eine sprachlich sinnvolle Bitte um Entschuldigung finden Sie im Kapitel 10).
Vergeben ist ein innerer Vorgang. Jemand, der verletzt oder geschädigt worden ist (das Opfer), entscheidet sich aus seinem eigenen freien Willen:
• auf jegliche Rache zu verzichten
• die Vergangenheit vergangen sein zu lassen
• sich der Gegenwart und Zukunft mit den jetzt bestehenden Möglichkeiten und Chancen zuzuwenden
• für den eigenen Weg in die Zukunft die Verantwortung zu übernehmen
• den Täter (so weit wie möglich) wieder als Menschen mit seinen individuellen Einschränkungen und Qualitäten zu betrachten Vergeben ist eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu bewältigen und besser weiterleben zu können. Beim Vergeben wird nicht geleugnet, dass dem Opfer (zum Teil massiv) Unrecht geschehen ist.
Vergeben bedeutet auch nicht, auf angemessenen Ausgleich zu verzichten. So kann beispielsweise eine geschiedene Frau ihrem Exmann, der bisher die Unterhaltszahlungen verweigert hat, durchaus vergeben – ohne deswegen auf die gerichtliche Durchsetzung ihrer Ansprüche zu verzichten.
Dem Vergeben – als innerem Prozess – kann eine Versöhnung folgen. Eine Versöhnung ist ein zwischenmenschliches Geschehen. Zwei Personen schaffen nach einer Verletzung miteinander eine neue Beziehungsebene. Dabei ist die Beziehung meist dadurch verletzt, dass einer der beiden Täterin oder Täter wurde, die/der sein Opfer geschädigt hat. Häufig ist in solchen Situationen das Vergeben eine Vorbedingung für die Versöhnung. Auch eine Versöhnung bedeutet jedoch nicht zwingend eine anschließende Fortführung der Beziehung.
Dem Vergeben haften viele Irrtümer an. Um sich wirklich für einen Vergebensprozess zu entscheiden, ist es nützlich, diese Missverständnisse vorher auszuräumen. Vergeben bedeutet nicht:
• zu bagatellisieren, zu leugnen oder zu verdrängen, wie schwer der Schaden ist, den das Opfer erlitten hat
• das Unrecht hinzunehmen, passiv zu bleiben und Wiederholungen zuzulassen
• sich vertragen oder versöhnen oder wieder Kontakt haben zu müssen – ebenso wenig wie sich endgültig trennen zu müssen
• die Tat zu entschuldigen oder auf einen sinnvollen Ausgleich zu verzichten
• moralisch überlegen zu sein, weil die Täterin ja »so ist, wie sie ist«, und »nichts dafür kann« oder »nicht fähig ist, um Entschuldigung zu bitten«
• (sofort) keine negativen Gefühle gegenüber der Täterin zu haben
Auch ist Vergeben kein einforderbares Recht, auf das ein Täter oder eine Gruppe (zum Beispiel eine Familie oder ein Betrieb) in irgendeiner Weise einen Anspruch hätte. Vergeben ist immer die freie Entscheidung des Vergebenden! Aber warum kann das sinnvoll sein? Vergebung wird im Christentum – wie bereits gesagt – schon im Vaterunser »verlangt«. Wir verstehen das unter dem Aspekt, dass Jesus von sich sagt »Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10,10).3 Vergeben lädt dazu ein, wieder mehr Fülle im Leben