Am nächsten Morgen wurde er von einem alten Mann bemerkt. Er gab ihm Wasser. Da der Junge nicht redete, aber sehr heruntergekommen aussah und offenbar allein war, brachte er ihn zu einer Sammelstelle des Roten Kreuzes, wo man Kinder versorgte, die durch den Angriff ihre Eltern verloren hatten.
Später kam er in ein Waisenheim. Der Junge war durch die Ereignisse dieser Nacht so traumatisiert, dass er die Erinnerung daran tief in seinem Gehirn verschloss. Er wusste weder seinen Namen, noch kannte er seine Adresse. Es gab lediglich einen kleinen Hinweis auf seine Identität: In seinem Hemd war ein Namensschild eingenäht, auf dem „Schneider“ stand. Sein Schweigen machte ihn zu einem haltlosen Blatt, das dem Sturm der Nachkriegszeit wehrlos ausgeliefert war. Das Gesicht des Soldaten mit der Narbe, der seinen Vater erschossen hatte, hatte sich ihm allerdings unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt.
Es dauerte viele Monate, bis er Menschen wieder einen kleinen Zugang zu seiner gequälten Seele gewährte. Die Nebel des Vergessens lichteten sich aber nicht. Irgendwann verloren sich die Spuren des Jungen in den Wirren der letzten Kriegstage. Eine traumatisierte Waise von vielen, deren Schicksal ungewiss war.
An jenem 16. März 1945 hatte es nur etwa zwanzig Minuten gedauert, bis der alles vernichtende Bombenhagel das architektonische Kleinod Würzburg in das Grab am Main verwandelt hatte. Am Ende der Feuerwalze waren um die 5000 Tote zu beklagen – Frauen, Kinder und alte Männer. Viele Menschen starben in verschütteten Luftschutzkellern – sei es, weil der Feuersturm allen Sauerstoff aufzehrte, sei es, weil durch die Brände giftige Gase durch die Straßen waberten. Viele erstickten an Kohlenmonoxidvergiftungen.
70 Jahre später
Würzburg, den 4. August 2015
Das schrille Läuten eines Telefons, das die Stille einer nächtlichen Wohnung durchdringt, hat etwas Unheimliches und versetzt die Bewohner in eine gewisse Alarmbereitschaft. Elvira Stark erging es da nicht anders. Sie schreckte aus ihren Gedanken auf und warf automatisch einen Blick auf das Ziffernblatt der Uhr über dem Sideboard in ihrem Wohnzimmer. Es war kurz vor vier. Sie war noch nicht im Bett gewesen. Sie war viel zu aufgeregt und nervös. Seit sie vor zwei Stunden Öchsle alleine in der Rosengasse aufgegriffen hatte, marschierte sie unruhig in ihrer Wohnung umher. Ihr erster klarer Gedanke nach dem Läuten war: Es ist etwas passiert! Sie eilte zum Telefon, hob ab und meldete sich.
Die Stimme, die aus dem Hörer kam, klang roboterhaft unmoduliert und leicht verzerrt.
„Guten Abend, Frau Stark, ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu sehr erschreckt.“ Vergeblich versuchte sie festzustellen, ob es sich um eine weibliche oder eine männliche Stimme handelte. Die Verzerrungstechnik machte dies unmöglich.
„Was wollen Sie?“
„Frau Stark, leider muss ich von Ihnen einen Dienst erbitten. Gehen Sie nachher, auf keinen Fall aber vor halb fünf, zur Maulhardgasse. Nur Sie und sonst niemand. Dem Eingang des ‚Maulaffenbäck‘ gegenüber wartet ein Paket auf Sie.“
„Moment! Aber was ist …“ Sie kam nicht mehr dazu, nach Erich Rottmann zu fragen, denn das Gespräch war bereits unterbrochen. Verstört legte sie den Hörer zur Seite. Ihr Magen zog sich zusammen, wenn sie daran dachte, was sie dort erwartete. Hastig eilte sie ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
Eine Woche zuvor, am 27. Juli
Der Service-Mitarbeiter der Bahn löste die Bremse des auf dem Bahnsteig bereitstehenden mobilen Rollstuhllifts und zog das hydraulische Gerät in die Nähe der Bahnsteigkante. Schnell warf er einen Blick auf seine Armbanduhr: 13.46 Uhr. In der Ferne konnte er die weiß-rote Bugspitze des einfahrenden ICE Frankenland aus München erkennen. Der Zug hatte nur eine Minute Verspätung. Per Telefon war er über die Mobilitätsservice-Zentrale verständigt worden, dass sich im Wagen 14 ein Rollstuhlfahrer mit dem Zielbahnhof Würzburg befand. Wagen 14, Fahrgästen der 1. Klasse vorbehalten, würde im Abschnitt D des Bahnsteigs halten.
Stetig langsamer werdend, rollte der ICE in den Bahnhof ein. Auf dem Bahnsteig warteten zahlreiche Fahrgäste.
Der Service-Mitarbeiter wartete, bis der Wagen 14 exakt an dem dafür vorgesehenen Abschnitt des Bahnsteigs zum Stehen kam und sich die Türen mit einem Zischen öffneten. Zuerst verließ der Zugbegleiter den Wagen und verständigte sich mit dem Wartenden mit einem Nicken.
„Servus. Ich denke, wir lassen erst die anderen Passagiere aussteigen. Seniore Luccaliano ist damit einverstanden.“
Ein Schwall von Reisenden verließ den Zug und eilte in Richtung Treppe. Einige hatten ihr Ziel erreicht, andere mussten den Bahnsteig wechseln, um ihren Anschlusszug zu bekommen.
Als sich einsteigende Passagiere in den Wagen drängen wollten, verwies sie der Zugbegleiter auf einen anderen Einstieg und der Service-Mitarbeiter fuhr den Rollstuhllift, nachdem der Zugbegleiter wieder eingestiegen war, dicht an die Treppe. Er arretierte die Räder und fuhr den Lift auf Höhe des Zugniveaus. Durch die Tür konnte er drinnen einen alten Herrn sehen, der in einem modernen Elektro-Rollstuhl saß und geduldig darauf wartete, dass er auf den Lift fahren konnte. Der Mann trug einen breitrandigen Hut, der sein Gesicht beschattete. Tiefe Falten markierten seine Züge wie hineingemeißelt und wurden durch die ausgeprägte Bräune, die sein Gesicht aufwies, nochmals betont. Unter dem hellen Übergangsmantel waren ein hellblaues Hemd und eine Krawatte zu erkennen. Seine ebenfalls gebräunten Hände hielten einen Gehstock mit silberfarbenem Knauf. Das Alter des Mannes war schwer einzuschätzen. Hinter ihm standen zwei hochgewachsene Männer mit Sonnenbrillen, die die Szene aufmerksam beobachteten. Die beiden hätten Brüder sein können.
Auf ein Zeichen des Zugbegleiters hin bewegte der Rollstuhlfahrer den Steuerstick seines fahrbaren Untersatzes. Das singende Geräusch eines Elektromotors ertönte und das Gefährt rollte auf die Plattform des Lifts. Der Begleiter hob ein Gepäckstück auf und trat damit ebenfalls auf die Plattform. Einen Augenblick später berührten die Räder von Seniore Luccalianos Rollstuhl zum ersten Mal Würzburger Boden. Der Blick seiner graublauen Augen glitt mit wacher Aufmerksamkeit über die Menschen, die eilig den ICE bestiegen, und über die anderen, die sich in einem breiten Strom über die Treppe in Richtung Bahnhofshalle ergossen. Bis jetzt hatte er keinen Ton gesprochen. Schließlich sah er den Zugbegleiter direkt an.
„Mille grazie für Ihre Betreuung“, sagte er leise mit sonorer Stimme. Sein Deutsch war akzentfrei. Einer der Männer hinter ihm, die über die Treppe ausgestiegen waren, gab dem Zugbegleiter die Hand, dabei drückte er ihm diskret einen Geldschein in die Hand. Erstaunt warf der Mann einen Blick auf die Banknote, dann bedankte er sich überschwänglich. Der Mann im Rollstuhl winkte nur ab. Der Zugbegleiter stieg eilig zurück in das Abteil. Durch die Lautsprecher am Bahnsteig kam die Ansage, dass der ICE abfahrbereit war.
Während der Intercityexpress einen Augenblick später langsam aus dem Bahnhof rollte, näherte sich eilig ein junger Mann über den Bahnsteig und kam zielstrebig näher.
„Grüß Gott, Herr Luccaliano, mein Name ist Stefan Berger, ich bin Ihr persönlicher Fahrer.“ Er beugte sich hinunter und wollte dem alten Herrn die Hand reichen. Der beachtete diese Geste aber nicht, sondern stellte in scharfem Ton fest: „Sie sind zu spät! Es war vereinbart, dass Sie mich am Bahnsteig erwarten.“
„Ich weiß“, gab Berger zurück, „ich muss mich auch vielmals entschuldigen, aber die Parkplatzsituation rund um den Würzburger Bahnhof ist einfach katastrophal.“
Der Mann im Rollstuhl machte eine ungeduldige Geste. „Das nächste Mal planen Sie Verzögerungen mit ein. So, jetzt sehen Sie zu, dass wir hier von diesem zugigen Bahnsteig runterkommen.“
Der Service-Mitarbeiter trat einen Schritt nach vorn. „Leider ist der Würzburger Bahnhof noch nicht mit einem Lift ausgestattet, so dass wir bedauerlicherweise einen kleinen Umweg nehmen müssen. Folgen Sie mir doch bitte.“
Einer der schweigsamen Begleiter des Rollstuhlfahrers hängte den Gepäcktrolley