Ein wesentlicher Punkt ist dabei, dass das Bilden und Fördern von Netzwerken für die Seelsorge noch bedeutsamer wird: Die Kooperation mit Personen im Krankenhaus für die Krankenseelsorge; mit Personen des AMS (Arbeitsmarktservice) oder anderen Einrichtungen für die Hilfestellungen für Arbeitslose; die Kooperation mit psychosozialen Diensten etc. Die Pandemie zeigt hier deutlich auf, wo solche Netzwerke schon funktionieren – und wo es noch Nachholbedarf gibt.
SOLIDARITÄT UND HOFFNUNG
Aus der Papstansprache vom 27. März 2020 am verregneten Petersplatz, im Angesicht des uralten Pestkreuzes, ist mir ein Satz zentral: „Der Herr fordert uns heraus, und inmitten des Sturms lädt er uns ein, Solidarität und Hoffnung zu wecken und zu aktivieren, die diesen Stunden, in denen alles unterzugehen scheint, Festigkeit, Halt und Sinn geben.“ Solidarität und Hoffnung – das ist etwas Aktives, ein bewusster Einsatz für andere. Solidarität zeigt sich in allen Diensten der Kirche – zentral aber im konkreten Hinschauen auf jene, die selbst nicht mehr die Kraft und die Möglichkeiten haben, ein ‚gutes Leben‘ zu führen.
Die Kriterien für das Reich Gottes werden im Matthäusevangelium (Mt 25) deutlich benannt: Da ist nicht vom Glauben die Rede, nicht von Gottesdienst und Gebet – sondern vom einfachen Hinschauen auf die Not des Menschen neben uns, ohne Ansehen der Person. „Ich war krank, und du hast mich besucht. Ich war nackt, und du hast mich bekleidet. Ich war durstig, und du hast mir zu trinken gegeben …“. Man kann hier eigentlich nur einen großen Fehler machen: Nichts zu tun und nur abzuwarten, dass andere handeln.
Man kann hier eigentlich nur einen großen Fehler machen: Nichts zu tun und nur abzuwarten, dass andere handeln.
Seelsorge vor diesem Hintergrund ist ganzheitlich – und hat sich an den jeweiligen Sorgen der Menschen auszurichten. Daher stellt gerade die aktuelle Situation die gängigen Modelle seelsorglichen Handelns auf den Prüfstand. So manches entwickelt sich neu; manches ist nicht möglich – und manches ist vielleicht auch überholt. Und keiner hat das Allheilmittel – auch nicht für die Seelsorge.
Und vieles wurde probiert und entwickelt – nur wurde und wird davon öffentlich wenig geredet. Ich würde mir daher wünschen, dass auch über Seelsorge, über die kreativen Ideen der Hilfestellungen, über heilsames Handeln genauso viel berichtet wird, wie über diverse Covid-19 Statistiken und über Gottesdienst-Übertragungen. Denn es gibt viele Ansätze: Internetforen mit Ideen und Berichten, wie z. B. covid-spiritualcare.com; oder die Ermutigung to go in Linz.
ALLES TUN FÜR DAS LEBEN?
Eine weitere zentrale Frage, die durch die COVID-19-Pandemie aufgeworfen wird, ist jene nach dem Verständnis und dem Stellenwert von ‚Leben‘. Die öffentliche Berichterstattung hatte sich anfangs hauptsächlich auf einen Faktor konzentriert: ‚Fallzahlen‘ von getesteten Personen, Verstorbene aufgrund von Corona, Krankheitsfälle, Gesundungen – aber alles unter dem Blickwinkel der Viruserkrankung.
Dass es gleichzeitig eine Fülle von psychischen und seelischen Problemen gibt aufgrund von Vereinsamung, Existenzängsten, Arbeitslosigkeit, Platzmangel etc. wurde nur langsam auch öffentlich diskutiert. Leben war und ist hier vielfältig beeinträchtigt, nicht nur durch Corona.
Die Frage, die für mich an dieser Stelle deutlich geworden ist, ist jene nach dem Leben: Was macht gutes Leben aus? Wie müssten sich die Gesellschaft und auch die Kirchen und Religionen ändern bzw. verhalten, damit sie wirklich einem ‚guten Leben‘ dienen? Die Frage nach dem Schutz des Lebens wurde intensiv gestellt – doch sie gilt nicht nur im Falle von Covid-Erkrankungen, sondern sie gilt am Beginn und am Ende des Lebens (Abtreibungs- und Sterbehilfe-Debatte) ebenso wie im Blick auf die Umwelt (Klima-Debatte) sowie hinsichtlich der Arbeitsbedingungen.
Es wird nach dem hoffentlich baldigen Ende der Pandemie auch weiterhin zu fragen sein, ob ein Land oder auch eine Kirche alles Notwendige tut, um gutes Leben zu ermöglichen. Hier kommen die Appelle von Papst Franziskus in seiner jüngsten Enzyklika Fratelli tutti zum Tragen: Dass eine solche Pandemie nicht dazu führen darf, den Solidaritätskreis zu eng zu ziehen; sich auf kleine Nationalitäten zu konzentrieren; wieder die Differenz zwischen „Wir“ und „Die Anderen“ aufzumachen.
Der Psychoanalytiker und Seelsorger Wolfgang Reuter hat die aktuelle Herausforderung so zusammengefasst: „In der Dynamik von Bindung und Trennung, Nähe und Distanz situationsangemessen zu handeln – Optimale Nähe gestalten bei gleichzeitig maximaler Abgrenzung.“ Und ich würde ergänzen: Und letztlich darauf vertrauen dürfen, dass der eigentliche Seelsorger, Gott, auch auf den krummen Zeilen unserer Versuche gerade Sätze der Hoffnung für die Menschen schreiben kann.
DIGITALISIERUNGSSCHUB
Des Weiteren gab es einen massiven Digitalisierungsschub auch innerhalb der Kirchen. Dies zeigt z. B. die internationale ökumenische Studie CONTOC (Churches Online in Times of Corona; vgl. 442 ff. dieses Heftes), die gerade ausgewertet wird. Damit ist nicht nur die massive und rasche technische Aufrüstung auf allen kirchlichen Ebenen gemeint, sondern auch die Entwicklung und Umsetzung von neuen digitalen Angeboten, auch weit jenseits der Übertragungen von Gottesdiensten. Mittlerweile sind digitale Konferenzen, Sakramentenvorbereitungen, Bibelrunden etc. für viele schon fast normal.
Plötzlich sind die jahrelangen massiven Bedenken im Blick auf den Datenschutz nachrangig im Blick auf die Möglichkeiten, die sich hier bieten. Es gibt neue digitale Gemeinschaften, die sich bilden. Zugleich aber gibt es wie bei allen Veränderungen und Entwicklungen auch hier jene, die dabei nicht mitkönnen: weil sie aus finanziellen oder anderen Gründen die technischen Möglichkeiten nicht haben. Oder weil sie zu alt sind, um in diese virtuelle Welt einzusteigen. Somit stellt sich hier die Aufgabe, sorgsam zu achten, wer übersehen oder abgehängt wird. Und auch die Verbindung von realer und virtueller Welt zu halten: Denn bei aller Sympathie für die Notlösung von digitalen Formen des Gottesdienstes, kann die physische Begegnung, das gemeinsame Singen, Beten und Sich-Wahrnehmen in einer Gemeinschaft vor Ort nicht ersetzt werden.
UND DIE THEOLOGIE?
Der Alttestamentler Thomas Hieke spricht davon, dass man mit Theologie in der Coronakrise gegen Verschwörungstheorien vorzugehen habe – und exemplifiziert dies anhand der Schöpfungserzählungen. Dies ist schließlich auch eine zentrale Aufgabe für Theologie und Kirche: Auskunftsfähig zu bleiben angesichts der vielen Fragen. Theorien zu hinterfragen – und nicht vorschnell Lösungen anzubieten. Denn natürlich hat die Pandemie auch viel mit Gott zu tun – wie es u. a. Regina Polak in mehreren Beiträgen im Blog theocare dargelegt hat. Doch ist er nicht zu vereinnahmen für eine bestimmte Deutung der Pandemie – sondern es sind die gängigen Gottesvorstellungen dahingehend zu hinterfragen, ob sie Bestand haben in dieser Krise, ob sie ein Teil des Problems oder ein Teil der Lösungen sind. Oder wie es Hieke nennt: „Mit Vernunft und Denken“ ist an die Krise heranzugehen. Und es geht um die Fragen von Gerechtigkeit und die Verantwortlichkeit des Menschen darin.
LINKS UND LITERATUR
Blog des Instituts für Praktische Theologie Wien theocare.network. Theologie im Zeichen von (Post)Corona, https://theocare.wordpress.com.
Forschungsprojekt Churches Online in Times of Corona, https://contoc.org/de/contoc.
Hieke, Thomas, Mit Theologie gegen Verschwörungstheorien in der Corona-Krise; abrufbar unter: https://www.katholisch.de/artikel/26091-mit-theologie-gegen-verschwoerungstheorien-in-der-corona-krise.