Seit jeher hat es Rufer und Mahnerinnen gegeben, die im Namen Jesu, im Namen des Evangeliums und im Namen Gottes Missstände anprangerten und zu Reformen aufriefen. So wird denn hinsichtlich der Geschichte der römischen Kirche (von ihr ist in diesem Buch die Rede) nicht nur deren Größe, sondern auch ihr Elend augenscheinlich. Dabei kann es nicht darum gehen, Sternstunden gegen Schandtaten aufzurechnen. Vielmehr werden im Folgenden ruhmreiche Ereignisse und Ärgernis erregende Entwicklungen nach Möglichkeit in chronologischer Reihenfolge dargestellt (wobei jedes Kapitel ein Ganzes bildet, sodass mit der Lektüre auch in der Buchmitte begonnen werden kann). Gelegentlich kommt gar beides in ein und derselben Geschichte zur Sprache – etwa wenn Papst Hadrian VI. die Laster der Kurie geißelt und gleichzeitig eine Reform des Klerus anmahnt. Die Blütezeiten verdienen es durchaus, großgeschrieben zu werden, allerdings ohne dass die Skandale im Kleingedruckten verkrümeln. Stets handelt es sich um Momentaufnahmen von Höhen und Tiefen einer Glaubensgemeinschaft, die wie jede menschliche Institution immer wieder hinter ihren eigenen Ansprüchen zurückbleibt.
Machtkämpfeoder Seht, wie sie miteinander streiten!
Jesus zufolge misst sich die Autorität im Reich Gottes nicht an irgendwelchen gesellschaftlichen Positionen, sondern am beharrlichen Einsatz für die Mitmenschen, vorab für die Bedürftigen.
Eine diesbezügliche Erläuterung findet sich im Markusevangelium an jener Stelle, die davon berichtet, wie Jesu engste Vertraute sich um einen Spitzenposten balgen:
Jesus und seine Jünger kamen nach Kafarnaum. Und als er im Haus war, fragte er sie: Was habt ihr auf dem Weg besprochen? Sie aber schwiegen, denn sie hatten auf dem Weg miteinander besprochen, wer der Größte sei. Und er setzte sich und rief die Zwölf und sprach zu ihnen: Wenn jemand will der Erste sein, der soll der Letzte sein von allen und aller Diener (Markus 9,33–35).
Es scheint, dass die Jünger der Ansicht waren, dass diese Wegleitung nicht für sie, sondern lediglich für alle anderen gelte. Haben sie Jesu Mahnung geflissentlich überhört? Waren sie auf beiden Ohren taub? Aufschlussreich ist, dass der Evangelist schon im folgenden Kapitel berichtet, wie sich die Jünger erneut zu übervorteilen suchen:
Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, traten zu Jesus und sagten: Meister, wir möchten, dass du uns eine Bitte erfüllst. Er antwortete: Was soll ich für euch tun? Sie sagten zu ihm: Lass in deiner Herrlichkeit einen von uns rechts und den andern links neben dir sitzen! Jesus erwiderte: Ihr wisst nicht, um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder die Taufe auf euch nehmen, mit der ich getauft werde? Sie antworteten: Wir können es. Da sagte Jesus zu ihnen: Ihr werdet den Kelch trinken, den ich trinke, und die Taufe empfangen, mit der ich getauft werde. Doch den Platz zu meiner Rechten und zu meiner Linken habe nicht ich zu vergeben; dort werden die sitzen, für die es bestimmt ist. Als die zehn anderen Jünger das hörten, wurden sie sehr ärgerlich über Jakobus und Johannes. Da rief Jesus sie zu sich und sagte: Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele (Markus 10,35–45).
Bevor wir näher auf diesen Sendungsauftrag eingehen, ist auf ein pikantes Detail zu verweisen. Bekanntlich hat der Verfasser des Matthäusevangeliums den Markustext als Vorlage benutzt und dabei nicht gezögert, die beiden Zebedäussöhne in ein etwas günstigeres Licht zu stellen; ihm zufolge nämlich ist es die Mutter des Jakobus und des Johannes, welche Jesus bestürmt, ihren Söhnen im Reich Gottes eine Vorrangstellung einzuräumen (vgl. Matthäus 20,20–21)! Damit zanken sich also ›nur‹ noch zehn Jünger um die besten Plätze!
Jesu »Kelch trinken« und seine »Taufe empfangen« – das bezieht sich nicht etwa auf das Tauf- und das Altarssakrament, sondern meint das ›Sterben mit (oder wie) Christus‹, womit der Evangelist aber nicht das blutige Martyrium, sondern die tägliche und tätige Nachfolge im Glauben meint. Die aber besteht nicht einfach im Machtverzicht, sondern darin, dass die Menschen ihre ›Macht‹ – und das bedeutet ihr Können und ihre Kräfte – zum Wohl der Allgemeinheit einsetzen: Macht als Ermächtigung zum Dienst!
Das Markusevangelium lässt durchblicken, dass diese Dienstanweisung sogar Jesu Jüngern zu schaffen machte. Und dass selbst in diesem Kreis eine offensichtliche Diskrepanz besteht zwischen Postulat und Realität.
Ungefähr anderthalb Jahrzehnte nach Jesu Tod, vermutlich ums Jahr 48 oder 49, beginnt es unter den Jerusalemer Jesusleuten so richtig zu brodeln. Dabei geht es um die Frage, ob die nichtjüdischen, zum Christentum übergelaufenen Gläubigen vor dem Empfang der Taufe zuerst beschnitten werden müssen und damit auf die mosaische Weisung zu verpflichten sind.
Angesichts der herrschenden Meinungsunterschiede sehen sich die Jerusalemer Gemeindemitglieder gezwungen, die Angelegenheit in einem größeren Kreis zu diskutieren. Prompt kommt es bei dieser Veranstaltung zum Eklat. Als einige Judenchristen dafür plädieren, strikt an der Beschneidung aller Neubekehrten festzuhalten, entsteht, so der Verfasser der Apostelgeschichte, »ein heftiger Streit« (Apostelgeschichte 15,7). Wohlgemerkt, wir befinden uns hier nicht in einem Kreis von Regenschirm tragenden englischen Gentlemen, sondern in einer Versammlung von gutturallautigen und wild gestikulierenden Orientalen. Petrus vermittelt. Das letzte Wort hat Jakobus, der Vorsteher der Jerusalemer Gemeinde; er entscheidet, offenbar ohne auf Widerspruch zu stoßen, dass auch Unbeschnittene ein anständiges Christenleben führen können.
Allerdings war der Konflikt damit nicht endgültig beigelegt, sondern schwelte weiter. Das geht aus der Auseinandersetzung zwischen Petrus und Paulus, den beiden Säulen der Urkirche, hervor, von der Letzterer in seinem Schreiben an die Gemeinde im kleinasiatischen Galatien berichtet. Paulus war ein Hitzkopf, Petrus ein Eiferer. Das konnte nicht gut gehen; prompt gerieten sie aneinander. Dabei ging es scheinbar bloß um Tischmanieren. Bekanntlich hatte Petrus keinerlei Hemmungen, in Antiocheia zusammen mit den dortigen Heidenchristen zu tafeln, was naturgemäß eine Übertretung der jüdischen Speisegesetze beinhaltete. Später jedoch, als einige aus dem Judentum zugewanderte Christen auftauchten, welche die besagten Speisevorschriften weiterhin beobachteten, ging Petrus auf Distanz zu seinen bisherigen Tischgenossen, damit die Neuangekommenen von seinen veränderten Essgewohnheiten nichts mitbekämen. Ein solches Verhalten kann ein Paulus partout nicht billigen, weshalb er Petrus glattweg der »Heuchelei« bezichtigt. Auch andere Judenchristen, wettert Paulus, hätten sich vom Beispiel des Petrus anstecken und fortreißen lassen (Galater 2,13–14).
Schon fast anekdotisch mutet es an, dass die Kontroverse zwischen Petrus und Paulus gut drei Jahrhunderte später einem Augustinus und einem Hieronymus nicht nur einiges Kopfzerbrechen, sondern vermutlich auch ein paar schlaflose Nächte bereitete. Ist es überhaupt denkbar, dass die zwei Ur- und Erzheiligen Petrus und Paulus so unfreundlich miteinander umgegangen sein sollen? Dass Heilige sich gelegentlich die Haare raufen, mag ja noch angehen. Aber dass sie einander in die Haare geraten? Tatsache ist, dass der Verfasser der Apostelgeschichte und Paulus im Galaterbrief diesen Tatbestand mit schwarzer Tinte auf blassgelbem Pergament festgehalten haben. Indessen steht für Hieronymus und für Augustinus außer Zweifel, dass Petrus und Paulus, diese beiden Tragpfeiler der Kirche, sich nicht wie zwei verkrachte Erben überworfen haben konnten.
Diese Möglichkeit war für die beiden Kirchenväter absolut undenkbar. Das geht aus ihrem in dieser Sache geführten Briefwechsel hervor. Schließlich kamen sie überein, dass es sich nicht um eine wirkliche, sondern lediglich um eine fingierte Auseinandersetzung gehandelt habe, gewissermaßen um eine didaktische Übung oder um eine dialektische Lektion, um den die Frage der Beschneidung diskutierenden Christenleuten den Willen Gottes vor- und sie selber zur Einsicht zu führen. Nach Ansicht der beiden Kirchenmänner haben Petrus und Paulus mit dieser angeblich künstlich inszenierten Auseinandersetzung so etwas wie ein pädagogisches Gesellen- oder Meisterstück geliefert.