Das Leben »im falschen Körper« kann massive Spannungen innerhalb der eigenen Persönlichkeit erzeugen. Ist der erste Schritt des Comingout bewältigt und wird eine Angleichung des Körpers mit der gefühlten Geschlechtsidentität begonnen, kann es zu heftigen Problemen im sozialen Umfeld und insbesondere der Partnerschaft kommen. Je stimmiger der eigene Körper aufgrund medikamentöser oder chirurgischer Interventionen wird, umso unstimmiger kann dies der Partner, der ja keine homosexuelle Beziehung gesucht hat, erleben. Gesellschaftlich handelt es sich um ein aktuelles Thema; da es jedoch noch wenig Literatur, evidenzbasierte Forschung und auch in unseren Praxen nur vereinzelte Erfahrungen mit der Thematik gibt, werden wir hier nicht vertieft darauf eingehen.
1.4 Sexfreundliche, aber berührungsfeindliche Gesellschaft
»We’re oversexed but underfucked« (von Schirach, 2007) bezeichnet das sexuelle Dilemma unserer Zeit. Sex in jeglicher Form ist omnipräsent, wird als Standard präsentiert und hat aber mit dem wirklichen Leben wenig zu tun. Die meisten Jugendlichen sehen Pornos, bevor sie eigene sexuelle Erfahrungen machen. Medienbilder favorisieren schnellen Sex und Sex als Konsumgut. Es wird als normal angesehen (viel) Sex zu haben und Erfahrungen mit Oral-, Analverkehr, Sex-Toys oder Bondage gelten als erstrebenswert.
Was einerseits befreit und neue Erfahrungsdimensionen eröffnen könnte, setzt Frauen wie Männer andererseits unter Druck: Genitalien und Körper werden verglichen, Leistungsfähigkeit und Ausdauer werden zum Maßstab für guten Sex, Ziele sollen erreicht werden. Nach Illouz (2013) ist diese Kultur sexueller Leistung der Grund, weshalb Menschen ihre Lust aufgeben.
Gleichzeitig gibt es in unserer immer stärker individualisierten Welt auch ein Bedürfnis nach echtem Kontakt, gemeinsam verbrachter Zeit und körperlicher, zärtlicher Berührung. Die Not und Sehnsucht nach Berührung sind so groß, dass Ärzte von Patienten berichten, welche um ein weiteres EKG bitten, weil »das letzte so gutgetan habe« (Hirschhausen, 2017).
Auch hinter dem Bedürfnis nach Sex steht oftmals ein Bedürfnis nach Nähe, Trost und Umarmung (Zilbergeld, 2000).
2 Blick in Partnerschaften
Nach einem Blick auf die gesellschaftliche Situation fokussieren wir nun unseren Blick auf Partnerschaften. In diesem Kapitel tragen wir für die Themen dieses Buches bedeutsame Studienergebnisse zusammen – wir blicken also durch die Brille der Paarforschung auf die Fragen: Worunter leiden Paare, die in die Beratung oder Paartherapie kommen, was macht sie unglücklich? Und was dagegen macht Paare glücklich?
2.1 Partnerschaftsprobleme
Während Männer bei Partnerschaftsproblemen zunächst still leiden, sind es in 80 % der Fälle die Frauen, die Beziehungsprobleme ansprechen (Gottman & Silver, 2017).
Zu den häufigsten – auch in Paarberatungen präsentierten – Problemen gehören Kommunikationsschwierigkeiten. Viele Paare können nicht mehr miteinander reden, ohne dass es eskaliert, oder sie sind nahezu verstummt.
Eine Schweizer Studie, in der nach Trennungsgründen in langjährigen Ehen gefragt wurde, zeigt, dass viele Frauen sich allein gelassen fühlen und die emotionale Unterstützung des Partners und das gemeinsame Lösen von Problemen vermissen. Die jüngere Männergeneration ist von den Kommunikationsschwierigkeiten allerdings weniger betroffen, sie teilen sich eher mit als ihre Väter (Perrig-Chiello, 2017).
John Gottman beschreibt vier Kommunikationsformen, die Partnerschaften auf Dauer zerstören. Er nennt sie »die schlimmsten Vier« oder die »Apokalyptischen Reiter« (2014):
1. Globale Kritik: Vorwürfe, Anklagen und Verurteilungen, insbesondere Verallgemeinerungen in Bezug auf die Persönlichkeit (z. B. »Du bist schon immer egoistisch gewesen!«)
2. Defensivität: Rechtfertigung, Gegenvorwürfe, Schuldzurückweisung und Beharren auf der eigenen Position (»Du bist doch auch nicht besser! Aber du…«)
3. Verächtlichkeit: zynische Worte, herablassender Tonfall, abfällige Mimik, den anderen lächerlich machen oder verspotten
4. Mauern: den anderen ignorieren, sich verschließen, den anderen »abprallen« lassen, die Kommunikation einseitig abbrechen
Auffällig ist, dass ungünstige Kommunikationsmuster unter Stress häufiger auftreten. Bodenmann hat auf die Bedeutsamkeit des Stresses für Partnerschaften hingewiesen: Stress, der außerhalb der Partnerschaft wie etwa bei der Arbeit entsteht und nicht ausreichend bewältigt wird, kann auf die Beziehung »überschwappen«. Konflikte und eine Verschlechterung der Partnerschaftszufriedenheit sind die Folgen (2015).
Auch die Berner Studie bestätigt diese Zusammenhänge: Menschen, die unter Stress stehen, sind eher unzufrieden mit ihrer Partnerschaft. Häufiger auftretende Konflikte erzeugen dann weiteren Stress, Teufelskreise entstehen. Davon ist auch die Sexualität betroffen: Mit zunehmendem Stress sinkt die Zufriedenheit mit der sexuellen Beziehung (Borgmann et al., 2019).
Besonders belastend sind auch stabile schwierige Persönlichkeitseigenschaften des Partners wie Neurotizismus, also die Tendenz zu Ängsten, Traurigkeit, Schuldgefühlen und Ärger, oder Veränderungen aufgrund von Alkoholproblemen und Depressionen (Karney & Bradbury, 1995; Lee & Sbarra, 2013; Amato & Previti, 2003; Whisman, 2007). Ein konstruktiver Austausch ist kaum noch möglich und es kommt zu andauernden Konflikten. Viele Partner halten es lange in derart schwierigen Beziehungen aus. Im Laufe der Jahre stoßen sie dann aber an ihre Grenzen, bringen die Bereitschaft, ihr Leiden zu ertragen, nicht mehr auf und beenden die Partnerschaft.
Während Frauen die mangelnde Kommunikationsfähigkeit ihrer Männer beklagen, geben mehrheitlich Männer den Aspekt der Entfremdung als Grund für Partnerschaftsunzufriedenheit an. Sie nehmen unterschiedliche Entwicklungen, auseinandergehende Werthaltungen und Lebensstile wahr und erleben ihre Partnerinnen als nicht genügend anpassungs- und veränderungsbereit (Margelisch & Perrig-Chiello, 2016).
Wir fragen uns, welche Rolle die sexuellen Bedürfnisse bei den unterschiedlichen Entwicklungen und auseinandergehenden Lebensstilen spielen. Denn wie wir noch genauer sehen werden, leiden insbesondere Männer unter seltenem oder unbefriedigendem Sex. Für viele Männer hat die Sexualität eine große Bedeutung für ihre Partnerschaftszufriedenheit und eine Auseinanderentwicklung der sexuellen Lust ist daher vermutlich ein erheblicher Faktor für ihr Gefühl der Entfremdung (
In gut einem Drittel der Paarbeziehungen kommt es zu Außenbeziehungen, wobei Männer und Frauen nahezu gleich häufig fremdgehen. Selbst in Paarbeziehungen, die sich als glücklich beschreiben, wird fremd gegangen (Schmidt et al., 2003; Kröger, 2010).
Die meisten Männer und auch mehr als die Hälfte der Frauen begründen eine Außenbeziehung mit dem »Reiz des Neuen« (Schmidt et al., 2006). Wer dem Reiz erliegt, wird von persönlichen Werthaltungen bestimmt: Eine permissivere Moral und geringere Religiosität begünstigen Außenbeziehungen (Fincham & Beach, 2010).
Verschiedene Studien zeigen eine Kombination unterschiedlicher Faktoren: Neben der Partnerschaftsgeschichte und -qualität spielt die persönliche Biografie eine Rolle. Weiterhin wirken sich Persönlichkeitsfaktoren wie etwa emotionale Instabilität, ein geringes Selbstwertgefühl, Unzufriedenheit, höhere Depressivitätswerte oder eine geringere Gewissenhaftigkeit aus. Begünstigend zeigen sich – vor allem beim Mann – ein höheres Einkommen und beruflicher Status sowie körperliche Attraktivität. Diese Faktoren erleichtern es auch, geeignete Gelegenheiten zu finden (Von Sydow & Seiferth, 2015).
Frauen wie Männer finden eine Liebesbeziehung des Partners belastender als reine sexuelle Untreue (Tagler & Gentry, 2011). Jene führt auch häufiger zu