Elisabeth Nesselrode ist in Mechernich in der Nordeifel geboren und aufgewachsen. Sie lebt seit zehn Jahren in Bayern. In München hat sie mehrere Jahre in der Film- und Fernsehbranche gearbeitet, bevor es sie 2017 für ein Zweitstudium nach Regensburg verschlagen hat. Sie schreibt, seit sie schreiben kann, besonders gern über das, was schwer begreiflich scheint, was im Schatten liegt.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2021 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Sally Mundy/Arcangel.com
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Carlos Westerkamp
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-795-8
Oberpfalz Krimi
Originalausgabe
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Für Ami
Prolog
Diese Nacht ist so schwarz, wie nur wenige es zu sein vermögen. Beinah jedes Fenster des alten Hofs leuchtet hell, beinah jedes Licht ist eingeschaltet. In der Dunkelheit rauschen die Wipfel der Kiefern, im Wald knacken Äste, raschelt das Laub, irgendwo kreischt ein Vogel. Lautlos bewegen sich Gestalten hinter den erleuchteten Fenstern, gleich einem unruhigen Schattenspiel, und verharren, als plötzlich ein tiefer, schmerzerfüllter Schrei die Nacht durchbricht. Dann wird alles ruhig, sogar die Baumkronen der Kiefern scheinen zu erstarren.
Sekunden später stürmt eine Gestalt aus der Vordertür. Sie zieht sich die Kapuze ihres schwarzen Pullovers über den Kopf und rennt, ohne sich ein einziges Mal umzublicken, über die Auffahrt davon, bis sie im Dickicht des Waldes verschwindet.
Jetzt ist es wieder ruhig. Es vergehen Minuten, Minuten, die sich wie Ewigkeiten ziehen, bis plötzlich eine zweite Person aus der Vordertür ins Freie tritt. Ihre Silhouette wird vom schummrigen Licht der eingeschalteten Lampen im Inneren angestrahlt, ihr weißes T-Shirt ist dunkel bespritzt, die Haare zerzaust. Sie legt den Kopf in den Nacken, saugt gierig die frische Nachtluft ein. Für einen Moment hält sie inne, als warte sie auf etwas. Sie dreht sich ein letztes Mal zum erleuchteten Hauseingang zurück und läuft dann über den Waldweg davon.
Irgendwann bleibt sie stehen, begutachtet beinah verwundert den glänzenden Gegenstand in ihrer Hand. Entschieden wirft sie ihn von sich, beobachtet, wie er auf dem Laub aufkommt und zwischen den raschelnden vertrockneten Blättern zu versinken scheint. Dann rennt sie weiter, so lange, bis der Widerhall ihrer Schritte nicht mehr zu hören ist und sie von der Dunkelheit des Waldes vollends verschluckt wird.
Der Hof auf der Lichtung ist verlassen. Das Licht brennt noch immer.
Doch nun herrscht tödliche Stille.
1
Der Himmel war wolkenlos an diesem Dienstagmorgen im April. Die Sonnenstrahlen kämpften sich zwischen den Blättern und Ästen der Bäume hindurch, spiegelten sich im tropfenden Tau und erweckten den kleinen Wald am Ortsrand aus der nächtlichen Ruhe. Ulrikes Mercedes-Oldtimer rauschte wie ein Fremdkörper über den Forstweg. Im Rückspiegel registrierte sie den trockenen Waldboden, die braune Wolke, die einen dunklen Film auf ihrer Heckscheibe hinterließ. Mit knirschenden Reifen kam ihr marineblauer W123 schließlich vor dem maroden Bauernhof zum Stehen. Ulrike schaltete den Motor aus, löste die durchgestreckten Arme vom Lenkrad, klappte die Sonnenblende herunter und begutachtete sich in dem kleinen Spiegel. Sie fuhr sich durchs kurze, rot gefärbte Haar, zog ihren Lippenstift nach, schob die Sonnenbrille vor bis auf die Nasenspitze und blickte über den Brillenrand auf die weiß-braune Fassade der riesigen Scheune, die sich wie ein Ungeheuer vor ihr aufbaute. Sie atmete tief durch und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Dann schaltete sie das Radio aus, stieg aus dem Wagen und ließ die Autotür hinter sich zufallen.
Trotz des guten Wetters war es zu dieser frühen Uhrzeit noch immer bitterkalt. Ulrike schlug den Mantelkragen hoch und ging an der Außenfassade des Dreiseithofs vorbei auf den Eingang zu, vor dem ein rot-weißes Absperrband aufgespannt war. Eine junge Streifenpolizistin mit einem langen blonden Pferdeschwanz kam ihr entgegen. »Sind Sie …?«
»Hauptkommissarin Kork, Kripo Regensburg.«
»Franka Brandl, Polizeiinspektion Neumarkt. Wir haben schon auf Sie gewartet. Hier lang …« Franka Brandl zog das Absperrband nach oben, und Ulrike trat durch den niedrigen, weiß verputzten Eingang in die schummrige Diele des Wohnhauses. Es roch muffig, nach großem Hund und Zigarillos, nach dreckigem Geschirr und Kauzigkeit. So als wäre schon lang nicht mehr gelüftet worden.
Rechts der Diele lag die Küche, links davon ein kleines Wohnzimmer, in dem Staubkörner und Hundehaare von den in weißen Overalls umhergeisternden Mitarbeitern der Spurensicherung aufgewirbelt wurden und im trüben Licht tanzten. Trotz der vielen Personen, die sich im Gebäude befanden, lag eine gespenstische Ruhe in der Luft. Über die knarzende Holztreppe stiegen die beiden Frauen nach oben. Ein düsterer Flur erstreckte sich vor Ulrike, kleine Zimmer rechts und links, schwaches Licht erhellte das dunkle Holz des Fußbodens und warf Schatten an die Wand.
»Da vorn, im Schlafzimmer«, sagte Franka Brandl, und Ulrike folgte ihr zum letzten Raum auf der linken Seite. Als Ulrike sich an das matte Licht gewöhnt hatte, sah sie den Arm, der halb aus der Tür auf den Flurboden ragte. Sie schauderte. Dann trat sie ein.
Die Leiche lag verkrümmt neben dem Türblatt in einer getrockneten, rostig-dunkelroten Blutlache, das karierte Hemd war völlig durchtränkt, die Haare verklebt. Ein fahler Lichtschein erhellte das blutverschmierte, ebenmäßige Gesicht des Mannes, das von einem dichten Bart und kräftigen Augenbrauen umrahmt war. Aus dunklen Höhlen starrten ihr leere braune Augen entgegen, die zuletzt einen Punkt auf dem Flur fixiert haben mussten.
An solch einen Anblick würde Ulrike sich wohl nie gewöhnen. Trotz all der Jahre im Dienst der Kriminalpolizei, trotz all der Tatorte, all der Leichen, all der Tragödien. Dieser erste Blick verlangte ihr stets am meisten ab.
Sie zog den Schal über Mund und Nase und atmete durch den Stoff tief ein. »Mit wem haben wir es hier zu tun?«
Statt Franka Brandl antwortete ihr die tiefe Stimme eines Mannes, der bereits im Zimmer stand. »Leonard Berger, siebenundfünfzig Jahre. Lebte seit etwas mehr als einem Jahr allein hier auf dem Hof.«
Der Mann, der auf Ulrike zukam, war riesig, an die zwei Meter groß. Er trug eine dunkelblaue Uniform, war um die fünfzig, hatte schwarz-graues, sauber nach hinten gekämmtes Haar, einen Schnurrbart und buschige Augenbrauen. »Yusuf Kaya, Hauptkommissar. Kripo Regensburg, nehme ich an? Wir hatten eigentlich mit Herrn Wimmer gerechnet –«
»Jetzt müssen Sie mit mir vorliebnehmen. Ulrike Kork, ich bin neu auf dem Posten«, unterbrach sie ihn forsch.
»Und heut das erste Mal im Einsatz?«
Ulrike nickte. »Hier ja, ich war davor beim LKA in München.«
»Aber von hier sind Sie auch nicht, oder? Das hört man.«
Ulrike beugte sich, statt einer Antwort, demonstrativ über die Leiche, um dem Small Talk ein Ende zu bereiten. »Wer hat ihn gefunden?«
»Eine Spaziergängerin aus dem Nachbarort. Sie war im Wald unterwegs, da kam ihr der Hund entgegen, und sie hat sich Sorgen gemacht. Sie ist draußen bei meinem Kollegen, der befragt sie gerade.«
»Wie lang liegt er hier schon?«
»Sicher ein paar Tage. Brutal niedergemetzelt haben sie ihn, den armen Kerl. Sechzehn