Bernice schwieg und beobachtete, wie sich das Gesicht vor ihr veränderte. Die Gleichgültigkeit war weggewischt und Lewis Left Hand sah sie mit brennenden Augen an. Sie fühlte ihr Herz klopfen und erwiderte seinen Blick erschrocken und ungeschützt. Ärger? Na und?!
„Was für Unterlagen?“ Lewis versuchte, die Faszination, die er unbewusst und plötzlich auf die Frau ausübte, für sich zu nutzen. Bernice Miller interessierte ihn nicht im Geringsten. Sie war wie alle anderen auch. Mochte sie von ihm denken, was sie wollte, und erzählen, was sie wollte. Hauptsache, sie gab ihm jetzt, was er wollte: so viele Informationen über seinen Vater wie möglich. Bernice räusperte sich und fuhr sich mit der Zunge nervös über die Lippen. Sie war sich auf einmal der Tatsache bewusst, dass sie mit diesem Lewis Left Hand, Sohn eines Unruhestifters und Nichtsnutzes, mitten im Flur des Tribal Office stand. Dem öffentlichsten Gebäude des ganzen Reservates! Ihre Mutter würde unweigerlich davon erfahren und sofort besorgt sein. Die Reaktion ihres Vaters mochte sie sich gar nicht vorstellen. Aber sie war kein Kind mehr, sondern sie saß hier in einem öffentlichen Büro. Sie wusste, was sie tat. Ihre Großmutter, die Mutter ihres Vaters, würde ohnehin auf der Seite ihrer Enkelin stehen. Bernice lächelte und gab ihm die Informationen, die er wollte. „Also damals, als Ihr Vater starb, fanden einige Leute die Umstände seines Todes etwas mehr als seltsam. Ihr Vater hatte Kontakte zum American Indian Movement, dem AIM, und die schickten jemanden, um den Fall auf eigene Faust zu untersuchen. Allerdings ohne Ergebnis.“
„Was soll das heißen?“ Lewis wurde es plötzlich zu warm, seine Kleider wurden ihm zu eng und er glaubte zu ersticken. Er hielt Bernices forschenden Augen stand und riss sich zusammen. „Und wieso tauchen jetzt Unterlagen auf? Wieso nicht hier, sondern in Pine Ridge? Dort leben doch die Oglala. Was ist damals passiert?“ Diese Fragen, die ihn immer mehr quälten, schienen Lewis wichtiger denn je zu sein. Unwillkürlich hatte er Bernice an den Schultern gepackt und begann, sie unsanft zu schütteln. Entsetzt sah sie ihn an. Doch in ihrem Blick las er Anteilnahme und Neugier anstelle der Furcht und der Abneigung, die er erwartet hatte. Aufrichtigkeit. Er schämte sich. Zum ersten Mal, seit er hier im Reservat war, suchte er die Schuld für sein Fremdbleiben bei sich und nicht bei den anderen. Lewis beruhigte sich.
Bernice sah sich um und bedeutete ihm mit einem Neigen des Kopfes, dass er ihr folgen sollte. Sie würde ihm weitere Fragen beantworten, aber nicht hier, wo jeder sie hören konnte. Sie ging zurück in ihr Büro und Lewis folgte ihr. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, füllte sie zwei Tassen mit Kaffee, reichte eine davon Lewis und setzte sich auf einen der beiden Besucherstühle.
„Milchpulver und Zucker liegen neben der Kaffeemaschine.“
Lewis nickte dankend und gab zwei Löffel Milchpulver aus der angeschlagenen Keramikdose in seinen Kaffee. Drei Stücke Zucker plumpsten hinterher. Lewis wusste inzwischen, dass ein Sioux-Kaffee amerikanische Herzen schneller schlagen ließ und war entsprechend vorsichtig geworden. Er nahm sich den zweiten Stuhl und setzte sich Bernice gegenüber, die ihren Kaffee schwarz trank und ihren Gast über den Rand ihrer Tasse hinweg eingehend gemustert hatte und nun höflich auf ihre Hände sah. „Was möchtest du noch wissen?“
Er schwieg verwirrt von der plötzlichen Vertrautheit und trank einen Schluck. Sie drängte ihn nicht, wartete einfach ab. Statt- dessen stellte sie sich selbst die Frage, ob es richtig war, was sie tat. Hatte sie das Recht zu sprechen, wo alle geschwiegen hatten? Brachte es nicht Unglück, die Namen der Toten auszusprechen?
„Mein Vater … ich meine, der Mann, der die letzten neunzehn Jahre lang mein Vater gewesen ist, also mein Vater hat mir erzählt, dass meine Mutter nie über die Gründe gesprochen hat, warum sie das Reservat verließ, bevor ich geboren wurde. Nur, dass es besser für mich gewesen wäre. Sie hat Andrew Maclean, meinen Vater, kennengelernt, als sie einen Job als Bedienung in einem italienischen Restaurant hatte.“
Lewis brach ab und versuchte sich seine Mutter vorzustellen, wie sie im vierten Monat schwanger, mit ihm unter ihrer weißen Schürze verborgen, zwischen den eleganten Tischen hin und her geeilt war.
„Mein Vater aß dort oft mit seinen Geschäftsfreunden. Er hat meine Mutter angesprochen, weil sie so ein schönes, trauriges Lächeln hatte. Sie hielten sie für eine Italienerin.“
Er sah Bernice an und lächelte ebenfalls. Schön und traurig, fand sie, und konnte verstehen, warum ein weißer Mann seine Mutter angesprochen hatte.
„Wann hat sie es ihm gesagt?“
„Was? Dass sie schwanger war oder dass sie keine Italienerin war?“
Nun lachten sie beide. Über einen traurigen kleinen Witz. Jetzt, da er ihr nicht mehr feindselig gesinnt war, fand Lewis Bernice sehr nett. Es ließ sich gut mit ihr reden und sie sah gut aus. Bernice bemerkte die Veränderung in seinem Blick und beeilte sich mit ihrer nächsten Frage. Das hier ging ihr zu schnell.
„Was hat dein Vater gemacht, als er es wusste?“
„Nun, sie hat ihm gleich bei ihrem ersten Treffen alles erzählt und Dad war bereits hoffnungslos in sie verliebt. Er fand die Vorstellung Vater zu werden genauso interessant wie die Tatsache, dass Mutter Indianerin war.“
„Ein indianisches Aschenbrödel.“
„Nein. Nein, so würde ich das nicht sagen.“ Lewis versuchte vergeblich seine Überraschung darüber zu verbergen, dass eine Indianerin hier im Reservat die Geschichte von Aschenbrödel kannte. Sie grinste ihn an und er wusste, dass sie wusste, was er dachte.
„Du denkst noch viel zu weiß, Lewis Left Hand. Aber wenn du lange genug bleibst und bereit bist zu lernen, dann könnte noch was aus dir werden.“ Sie sagte dies lächelnd und ließ ihm Zeit, die zwei Seiten eines Lächelns zu begreifen.
„Du weißt wohl genau über mich Bescheid, was?“
„Oh, das Stachelschwein wird wieder borstig!“
Wider Willen musste Lewis lachen und fühlte sich gut dabei. Er begriff die zweite Seite des Lächelns und wurde wieder ernst.
„Nein, meine Eltern haben sich wirklich geliebt. Auf ihre Art. Aber sie konnten nicht über die Dinge reden, die ihnen wichtiger waren als ihre Liebe zueinander. Dad hat mir das gesagt, bevor er ging. Ist ihm nicht leicht gefallen.“ Lewis dachte an das Gespräch zurück.
„Was war ihnen wichtiger?“
Er sah Bernice an und seufzte. „Sie vermissten beide ihre Heimat.“
„Beide?“
„Dad war als Fünfzehnjähriger aus Schottland in die Staaten gekommen.“
„Was sagte dir deine Mutter, wo sie herkam?“
„Indianerland.“
„Ah.“
„Nur solange ich klein war. Sie hat mir Schottland immer auf der Landkarte gezeigt. Aber niemals Indianerland. Ich hab’s erst jetzt gefunden.“
„Wollte dein Dad nicht, dass du es erfährst?“, fragte Bernice und dachte an die Wutanfälle ihres eigenen Vaters. Sinnloser Zorn aus der Flasche.
„Nein. Mein Dad wollte immer, dass ich mehr über meinen leiblichen Vater erfahren sollte. Mehr als das, was Mutter bereit war zu erzählen. Wir haben in den letzten Jahren oft deswegen gestritten.“ Lewis dachte an die Tränen seiner Mutter, die sie geweint hatte, als er sie angebrüllt hatte, ihm endlich zu sagen, was er glaubte, wissen zu müssen. Sie hatte beharrlich geschwiegen und aufgehört zu weinen. Zwei Monate später war sie tot. Warum?
„Kurz vor meinem neunzehnten Geburtstag fand ich durch Zufall zwei Zeitungsartikel über einen Mann namens Left Hand. Meinen Vater. Meinen richtigen Vater, den offensichtlich niemand leiden konnte.“ Er sah Bernice angespannt ins Gesicht. Sie hob die Schultern und wirkte ein wenig ratlos. Wie jemand, der nicht wusste, wie viel er von seinem Wissen preisgeben durfte.
„So kann man das nicht sagen“, meinte sie schließlich vage und suchte nach den richtigen Worten. „Du musst wissen,