Der Rancher hielt den Braunen an.
„Wer ist da?“
Blätter raschelten. Eine dunkle kräftige Gestalt brach aus dem Strauchwerk.
„Bist du das, Rick?“
„Nein, Lockwood!“
Die Stimme war von metallener Härte. Plötzlich sah Lockwood den Lauf des Gewehrs. Das Begreifen der tödlichen Gefahr durchfuhr ihn wie ein schmerzhafter Stich. Seine rechte Hand löste sich vom Zügel und langte zum Holster.
„Nein!“, keuchte er verzweifelt. „Ihr sollt mich nicht …“
Ein Feuerstrahl raste auf ihn zu. Das Krachen des Schusses dröhnte in Lockwoods Ohren.
Der Einschlag der Kugel riss seinen Oberkörper zurück, seine Füße glitten aus den Steigbügeln. Das Pferd wieherte schrill und stieg auf die Hinterhand.
*
Als Lockwoods Bewusstsein zurückkehrte, stellte er fest, dass er im zertrampelten Gras lag. Ein stechender Schmerz wühlte in seiner Brust. Mühsam drehte er den Kopf, um nach dem Mann zu sehen, der auf ihn gefeuert hatte. Aber da war nur Dunkelheit!
Vom Camp her trieb aufgeregtes Stimmengewirr heran. Schritte hasteten näher. Der Rancher wollte sich hochstemmen und rufen. Aber er war zu keiner Bewegung fähig. Kein Laut kam über seine blutleeren Lippen.
Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, als der gelbe Schimmer einer Sturmlaterne über ihn spülte. Schnelles Atmen drang an seine Ohren. Und dann sah er wie durch wogende Nebelschleier das schmale Gesicht seiner Tochter im Lampenlicht auftauchen – kreidebleich und vom Entsetzen gezeichnet.
„Vater!“, schluchzte sie auf. „Um Himmels willen! Vater!“
Er spürte, wie die Schwäche ihn zu übermannen drohte. Er bot seine ganze restliche Energie auf. Es dauerte eine Weile, bis er einen Ton hervorbrachte.
„Mary!“, flüsterte er brüchig. „Mary, du darfst … nicht aufgeben! Ich … wollte, ich könnte … dir das alles ersparen. Aber die Herde … die Ranch …“
Seine Stimme erstickte. Er hatte plötzlich den Eindruck, eine gewaltige schwarze Mauer komme mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zu.
„Ja, Vater!“, hörte er undeutlich die Stimme seiner Tochter. „Ja! Du musst ganz ruhig liegen! Du musst …“
„Die Herde …“ brachte er nochmals keuchend hervor.
Dann war die unheimliche schwarze Mauer direkt vor ihm und schlug über ihm zusammen …
Die Männer standen stumm im Halbkreis und starrten auf das Mädchen, das neben der reglos ausgestreckten Gestalt kniete. Schließlich nahm der alte graubärtige Mike Tipstone mit einem tiefen Aufseufzen seinen verbeulten Stetson ab. Die anderen folgten seinem Beispiel.
Nach einer Weile räusperte sich Lee Torrence und machte einen Schritt vorwärts. „Miss Mary!“
Das Mädchen hörte nicht Sie kniete da, den Rücken den Cowboys zugewandt, und starrte in das fahle, hagere Gesicht des Mannes, der ihr Vater war.
Der alte Tipstone wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Torrence wiederholte gedämpft: „Miss Mary!“
Sie zuckte zusammen. Es war, als würde sie aus einem Traum gerissen. Langsam drehte sie den Kopf. Der gelbe Laternenschein traf voll auf ihr Gesicht. Ihre roten ausdrucksvollen Lippen waren fest zusammengepresst. In ihren Augen lag ein seltsam benommener Ausdruck, als müsse sie sich erst besinnen, wo sie war und was sich ereignet hatte.
„Miss Mary“, sagte Lee Torrence mit heiserer Stimme, „es wäre besser, wir würden ihn in die Stadt hinüberbringen.“
Mary Lockwood nickte stumm. Langsam erhob sie sich. Ihre Arme hingen schlaff herab. Hoffnungslosigkeit beschattete ihre Miene.
Torrence drehte nervös seinen Stetson zwischen den kräftigen Fingern.
„Es … es tut mir leid, Miss! Einer von uns sollte den Boss in die Stadt begleitet haben, dann wäre das vielleicht nicht passiert.“
„Er wollte alleine reiten“, murmelte sie tonlos. „Lee, keinen von euch trifft irgendwelche Schuld!“
„Was werden Sie jetzt tun, Miss Mary? Meinen Sie nicht, es wäre besser, den Trail abzubrechen? Noch wäre Zeit dazu, noch befinden wir uns in besiedeltem Land.“
Das Mädchen blickte dem großen breitschultrigen Mann fest ins Gesicht. Eine Veränderung ging an ihrer Haltung vor. Ihre schmalen Schultern strafften sich. Sie hob den Kopf. Mit entschiedener Stimme antwortete sie: „Nein, Lee! Nein, wir geben nicht auf! Das ist ja, was diese Verbrecher bezwecken! Jetzt glauben sie sich wahrscheinlich bereits am Ziel. Aber wir werden sie enttäuschen. Wir treiben weiter – weiter bis Dodge City!“
„Der Chisholm Weg ist lang und gefährlich!“, gab Torrence zu bedenken.
„Ich weiß!“, erwiderte Mary Lockwood herb. „Aber ihr habt die letzten Worte meines Vaters gehört, nicht wahr?“ Ihre Blicke schweiften über die wettergegerbten Gesichter der Weidereiter. Sie zögerte.
„Es sei denn, ihr wollt dieses Risiko nicht mehr auf euch nehmen. Es wäre verständlich. Ich würde keinem von euch einen Vorwurf machen. Auch Ihnen nicht, Lee.“
„Miss Mary“, sagte Torrence schnell, „ich war nicht nur Vormann auf der Lockwood Ranch, ich war auch der Freund Ihres Vaters. Was auch geschieht – Sie werden sich auf mich verlassen können. Und ich bin überzeugt, dass das für jeden dieser Männer ebenfalls zutrifft.“
Er schaute in die Runde, und die Cowboys nickten stumm ihre Zustimmung.
„Bei der ganzen Sache denke ich nur an Sie, Miss Mary!“, redete Torrence weiter. „Vielleicht wäre es für Sie besser, wenn Sie in Austin zurückblieben. Wir werden die Herde auch ohne Sie nach Dodge City bringen.“
„Wir brauchen jede Kraft, Lee. Wir sind ohnehin fast zu wenig. Und ich verstehe genug vom Reiten und Lassowerfen, um mich wenigstens um die Pferderemuda kümmern zu können.“
„Sie wollen also mitkommen?“
„Ja, Lee! Ja, ich will dabei sein. Und nicht nur der Pferde wegen.“
Torrence hob die Schultern und sagte: „Der Trail stellt Anforderungen, denen eine Frau vielleicht nicht gewachsen ist, Miss Mary.“
Ihr Blick senkte sich wieder auf den Toten nieder, und Torrence glaubte schon, er würde keine Antwort erhalten. Da hob sie wieder den Kopf, und in ihren Augen lag ein verhaltenes Feuer. Von einer Minute zur anderen war sie plötzlich nicht mehr die junge sorglose Rancherstochter. Sie war entschlossen, eine schwere Aufgabe auf sich zu nehmen.
Sie sagte fest: „Ich will es herausfinden, Lee! In drei Tagen brechen wir auf!“
*
Pfeifend sperrte Greg Williams sein Zimmer im Obergeschoss des Rio Colorado Hotels ab und schob den Schlüssel in die Hosentasche. Den schweren Ledersattel mit den baumelnden Steigbügeln über der linken Schulter, ging er ohne Eile den Korridor entlang.
Greg Williams erreichte die Treppe, die in die Eingangshalle hinabführte. Unten war es still. Das Gästebuch an der Rezeption war aufgeschlagen, aber vom alten weißhaarigen Portier war nichts zu sehen. Die Tür zum Gehsteig stand einen Spalt offen. Ein Bündel goldener Sonnenstrahlen fiel schräg herein. Die Stufen knarrten leise unter Gregs Stiefelsohlen, als er langsam hinabstieg.
Als er die Mitte der Treppe erreichte, brach sein Pfeifen jäh ab. Aus dem schattigen Winkel neben der steilen Stiege hatte sich eine Gestalt gelöst – lautlos und mit katzenhafter Geschmeidigkeit.
Der Mann blieb unten vor der letzten Stufe stehen, schaute starr zu ihm empor und sagte mit einer leicht gedehnten höhnischen Stimme: „Hallo, Williams! Da bist du ja endlich!“
Gregs