Die Schnelligkeit, mit der sich der Islam über die bekannte Welt des 7. bis 8. Jahrhunderts ausbreitete, war seltsam genug: Noch eigenartiger aber war die Tatsache, dass das alles ohne großes Blutvergießen abging, sehen wir einmal von den persischen Feldzügen des Chalid ab, den seine Zeitgenossen das „Schwert des Islam“ nannten. Es wurden keine Felder mit den Leichnamen von Besiegten gedüngt, es gab keine Massenvergewaltigungen, keine verbrannten Städte. Als Krieger mögen die Araber nicht besser als andere Soldaten gewesen sein, die in eroberten Landstrichen metzelten und Verheerungen anrichteten. Aber anders als jene wurden diese durch den Glauben an einer Leine gehalten. Diese Männer fürchteten Gott in einem heute kaum mehr vorstellbaren Maße. Sie hatten eine tiefe Scheu vor Gottes allsehender Gegenwart. Selbst in den eroberten fremden Ländern gab es keinen Platz, wo sie sich vor seiner Gegenwart hätten verstecken können. Niemals zuvor hatte es eine Eroberung wie diese gegeben.
Der kriegerische Islam
Nicht zuletzt deshalb waren die islamischen Krieger lange Zeit so erfolgreich. Ein kurzer Blick in die Kriegsgeschichte zeigt, wie erfolgreich der Islam gegen das Christentum kämpfte. In den Jahrhunderten nach der Rückeroberung Spaniens, der „Reconquista“ durch christliche Könige, war die Bedrohung Westeuropas durch den Islam nie ganz beseitigt. Der Islam war die beherrschende Zivilisation der damals bekannten Welt und die Christenheit war beschränkt auf einen Zipfel der euro-asiatischen Landmasse. Sie war darin eingeschlossen und niemals wirklich sicher, außer zu jenen Zeiten, als die Muslime unter sich zerstritten waren.
Die Kreuzfahrer eroberten zwar Palästina, wurden nach angemessener Zeit aber wieder davongejagt. Im 13. Jahrhundert wurde die arabische Welt dann durch die mongolischen Horden verwüstet. Die Mongolen wurden jedoch bekehrt und wandelten sich sogar zu eifrigen Vorkämpfern des Islam. Das Gleiche passierte mit den Türken. Konstantinopel fiel im Jahr 1453, Belgrad wurde 1521 eingenommen, und im darauf folgenden Jahr die christliche Enklave Rhodos. Sultan Suleyman der Prächtige drang nach Ungarn ein und errang einen großen Sieg bei Mohács.
In den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts suchte der französische König Franz I. jegliche Unterstützung in seinem Kampf gegen die Habsburger und förderte die osmanischen Pläne zur Invasion Italiens. Ein paar Jahre später waren es protestantische Fürsten, die mit den Muslimen verhandelten, um mit deren Hilfe gegen den Papst und den Kaiser zu kämpfen. Der Sultan traf schon Vorbereitungen, um nach Deutschland einzudringen.
Das war dann aber eher eine leere Drohung. Denn zu diesem Zeitpunkt war Europa dabei, die muslimische Welt an tatsächlicher Macht zu übertrumpfen. Hauptsächlich war das den technischen Verbesserungen bei den Feuerwaffen und im Schiffsbau zu verdanken. Doch die Bedrohung, die Jahrhunderte lang die europäische Weltsicht geformt hatte, wirkte noch lange nach. Das „Ungeheuer des Islam“ schien die einzige Konstante inmitten der Veränderungen und Wandlungen zu sein.
Die Wende trat Ende des 17. Jahrhunderts ein. 1683 belagerten die Osmanen Wien zum letzten Mal. Ihre Kampfkraft war aber bereits erschöpft, und diese Tatsache wurde 1699 unterzeichneten Vertrag von Carlowitz anerkannt. Die Welt des Islam befand sich damals, einer zurückrollenden Welle gleich, bereits seit einigen Jahren in der Defensive, ihre Verteidigungspositionen waren bröcklig geworden. Die Briten waren in Indien und die Holländer in Indonesien erfolgreich. Die Einnahme der Stadt Asow durch die Russen brachte den, damals wie heute, unversöhnlichsten Feind der Muslime auf den Balkan.
Kollektive Angst in Europa
Fast 1.000 Jahre lagen zwischen dem ersten muslimischen Vorstoß nach Südfrankreich, ja bis in die heutige Schweiz hinein, und der „Kapitulation“ in Carlowitz. 300 Jahre sind inzwischen seit Carlowitz vergangen, in denen die Europäer zumindest hätten versuchen können, ihren Schauer vor dem Islam zu vergessen. „Tatsache bleibt“, sagt der tunesische Schriftsteller Hichem Djait, „dass die Vorurteile des Mittelalters sich in das kollektive Bewusststein des Westens so tief eingegraben haben, dass man sich voller Schrecken fragen mag, ob sie jemals wieder ausgemerzt werden können.“
Solche Alpträume kennt man aber nur im christlich geprägten Europa. Während des längsten Teils ihrer Geschichte hatten die Muslime keinerlei Anlass, Europa gegenüber Komplexe zu haben. Abgesehen von der relativ kurzen Periode der Kreuzzüge konnten sie es sich leisten, Europa schlicht zu ignorieren. Während des Mittelalters reisten muslimische Gelehrte, Prediger und Kaufleute durch die gesamte Welt des Islam zwischen Spanien und Indonesien. Ihr Pass war das Glaubensbekenntnis, und ihre Abenteuerlust wurde ihnen durch die Tatsache leicht gemacht, dass im Islam Gastfreundschaft und Hilfe für den Reisenden eine religiöse Pflicht sind.
Sie reisten aber vorzugsweise in die von ihnen zivilisierte Welt und wagten sich nicht bis ins dunkelste Europa vor – wo sie mit größter Wahrscheinlichkeit getötet worden wären. Ein früher islamischer Autor vertrat die damals sehr fortschrittliche Meinung, dass der weiße Mann nicht weniger intelligent sei als der schwarze Mann in Afrika.
Im Ganzen gesehen hatte es aber den Anschein, als sei das mittelalterliche Europa jenseits der Pyrenäen eine Region des Schmutzes und der Barbarei. Die Europäer, die als Kreuzzügler in Palästina eingefallen waren, sind in ihrer Kriegsführung barbarisch gewesen und kannten keinen Respekt gegenüber Frauen und Kindern. Sie waren schmutzig in ihren Angewohnheiten und haben so sicherlich etliches zur Schaffung schlechter Vorurteile beigetragen. Die Muslime konnten nichts von dem geheimen spirituellen Leben der Christenheit ahnen, das vor ihrem Blick in Klöstern und Einsiedeleien verborgen war. Ebenso wussten selbst moderne Europäer nur wenig von dem geheimen spirituellen Leben der Muslime und sahen nur die äußerliche Maskerade.
Schon vor den Kreuzzügen hatte ein gewisser Saìd Ibn Ahmad von Toledo ein Buch über die „Kategorien der Nationen“ geschrieben, das die Menschheit in zwei Arten einteilt: Solche, die sich mit Wissenschaft befassen, und solche, die davon nichts wissen. Die erste Gruppe schloss Araber, Perser, Byzantiner, Juden und Griechen ein. Die übrige Menschheit bestand aus nördlichen und südlichen Barbaren – den Weißen und Schwarzen.
Die Eroberung des Westens
Ironischerweise war es der Islam, der den europäischen Barbaren die vergessenen Bücher der griechischen Philosophie und Wissenschaft wieder zugänglich machte. Sie wurden jetzt neu aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt und setzten einen Prozess der Gärung in Europa in Gang. Die römische Kirche konnte diese Entwicklung, die ihrer eigenen Logik und ihren eigenen Gesetzen folgte, nicht länger in Schranken halten. Mit dem Aufkommen der industriellen Revolution und dem unkontrollierten Wachstum der angewandten Wissenschaften wurden unendliche Energien und neue Ideen freigesetzt. Sie schufen neue Instrumente und vor allem neue Waffen, die sehr wirksam zur Eroberung und Ausbeutung eingesetzt werden konnten.
Die arabische Welt, die damals eher auf sich selbst bezogen war und sich möglicherweise auch allzu selbstbewusst gab, erkannte viel zu spät, was da im Gang war. Sie wurde Opfer der neu erstarkten Kriegsmaschinerie der Europäer. Es gab zwar heroischen Widerstand gegen die europäischen Eroberer – etwa vom Emir Àbdu`l-Qadir in Algerien, von Schamyl im Kaukasus, Dipo Nagaro in Indonesien und dem „Mahdi“ im Sudan – aber mit dem Ende des Ersten Weltkriegs befand sich fast die gesamte islamische Welt unter fremder Herrschaft.
Was da passiert war, das war mehr als nur eine physische Eroberung. Diejenigen Völker, die bislang ihre Spuren in der muslimischen Welt hinterlassen hatten, waren entweder militärisch stark, aber kulturell schwach – wie etwa die Mongolen – oder umgekehrt. Jetzt aber, bei ihrem Zusammenstoß mit der westlichen Macht, stießen die Muslime auf physische Stärke, verbunden mit kultureller Dominanz.
Nach dem Zweiten Weltkrieg zogen sich die Europäer aus Arabien wieder zurück, hinterließen jedoch viel Verbitterung. Die arabischen Reiche fielen aus einem Mangel an Willenskraft und Erschöpfung