Das Nachahmungsverhalten
Die Psychologie lehrt zum Nachahmungsverhalten von Kindern, dass sie gerade in den ersten drei Lebensjahren fast ausschließlich durch Imitation (Nachahmung) lernen. Da alle Erwachsenen über die Hacken gehen, gibt es nur ein einheitliches Vorbild, das imitiert wird. Die Erwachsenen waren auch mal Kinder. Auch sie haben durch Imitation gehen/marschieren gelernt. Dieses Beispiel des Hackenganges wird so konsequent vor- und nachgemacht, dass es rein statistisch als das Normale gelten muss.
Die Erkenntnis, dass der Mensch eigentlich ein Ballengänger und kein Hackengänger ist, war für mich von solcher Klarheit und Einfachheit, dass ich glaubte, sie mit einem Satz der ganzen Welt verkünden zu können. Orthopäden und andere Mediziner reagierten aber nicht entsprechend.
Zu allen Zeiten hat es allerdings auch vernünftige Orthopäden gegeben, die bei Fußverformungen und postoperativ zur Kräftigung der Fußmuskulatur den Vorfußgang empfehlen, statt Einlagen zu verschreiben. Dennoch konnten sie sich offenbar nie klar genug vom medizinischen Dogma des anständigen Abrollens distanzieren, um selbst auf die Idee zu kommen, dass der Mensch ein genetisch angelegter Vorfußgänger ist. Scheinbar verdrängen wir alle den Ballengang hinter der erlernten Anpassung an den Hackengang so sehr, dass wir uns noch nicht einmal mehr theoretisch für das Gangverhalten des Menschen interessieren. Der Mensch scheint also ein »Mitläufer« vom ersten Schritt an zu sein.
Übrigens lernen wir durch Nachahmung nicht nur das Gehen, sondern auch die Sprache. Die Phase der ausschließlichen Nachahmung endet mit dem dritten Lebensjahr. Die Nachahmungsphase ist ein Bewusstseinsraum, der von dem nachfolgenden Bewusstseinsraum derartig ersetzt wird, dass er in Vergessenheit gerät. Könnte es sein, dass wir uns – angesprochen auf unser Gangverhalten – im Unbewussten daran erinnern, wie schwer es uns eigentlich fiel, unserem kindlichen Körper den Hackengang anzutrainieren? Fürchten wir deshalb vielleicht, dass alles, was mit Lernen zu tun hat, uns nur mit neuem Stress belasten würde? Und eine nächste etwas weiter greifende Frage drängt sich mir auf: Haben wir vielleicht wegen dieses ganzkörper- übergreifenden Erlernens eines muskulären Fehlverhaltens auch solche Schwierigkeiten mit der Entwicklung menschenwürdiger Schulsysteme?
Das Gehverhalten des Menschen
»Das wahre Wunder besteht nicht darin,
auf dem Wasser zu wandeln,
sondern auf der Erde zu gehen.«
Thich Nhat Hanh: Ich pflanze ein Lächeln
Die platonischen Seelenkräfte und GODO
Platon beschrieb die Seele in den folgenden drei Teilen: Wollen – Denken – Fühlen. Goethe verinnerlichte diese Erkenntnis in seinem zum Volkslied gewordenen Gedicht: »Ich ging im Walde so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn …« Er ließ sich von seiner Seele spazieren führen.
Nach einem dreißigjährigen Studium des Goethe-Nachlasses in Weimar erkannte Rudolf Steiner, der spätere Begründer der Anthroposophie und der Waldorfschulen, dass Wollen, Denken und Fühlen die drei Tätigkeiten unserer Seele sind. Er nannte sie explizit: SEELENTATEN. Dabei wird der Körper zum Instrument des Ausdruckes dieser drei Seelentaten. Somit ist auch unser Gang deren Ausdruck; sie können in jedem Schritt gesondert erfahren werden.
Bisher macht man sich das nur in der Heileurythmie zunutze. Durch das sogenannte dreigliedrige Schreiten »Heben – Tragen – Stellen« (Wollen – Denken – Fühlen) wirkt sie heilend auf Körper-, Sprach- und Wahrnehmungsstörungen ein.
Beim Stotterer drücken sich Wollen – Denken – Fühlen gleichzeitig aus. Es bildet sich ein Sprachknoten, der durch bewusstes Schreiten, das heißt durch die Entschleunigung der einzelnen Seelentaten, entwirrt werden kann (Heileurythmie).
Die platonischen Seelenkräfte werden heileurythmisch, also lediglich therapeutisch, oder in der Eurythmie als Kunstform genutzt. Ich habe nur ganz wenige Menschen getroffen, die aus einer solchen Erziehung als Ballengänger hervorgegangen sind. Dazu gehören einige ehemalige Mitglieder der Loheland-Schule in Hessen, die nach anthroposophischen Grundsätzen geführt wird. Auch die israelische Künstlerin Ruth Arion (1912–1988) war in ihrer Jugend mit dieser Bewegung in Berührung gekommen. Sie erinnerte sich, zwischen 1926 und 1936 im »königlichen Gang« geschritten zu sein. Während unseres Gespräches wurde ihr plötzlich klar, dass sie erst nach ihrer Flucht vor den Nazis bei der Arbeit am Fließband im Kibbuz den »königlichen Gang« vergessen habe. Viele Jahre später durfte ich sie wieder daran erinnern.
Jeder Schritt lässt sich als eine Folge von Gesten begreifen. Diese Gesten sind, wie wir erfahren haben, Ausdruck unserer Seelentaten. Ihr Sinngehalt und ihre Aufeinanderfolge unterscheiden sich je nach unserer Gangart, also je nachdem, ob wir uns als Hackengänger oder als Ballengänger bewegen.
Das Ruhen und das Wollen, die beiden ersten Phasen jeden Schrittes, sind bei Hackengängern wie bei Ballengängern gleich:
Ruhen
Vor aller Bewegung ist Ruhe. Wenn wir stehen, können wir sagen: »Ich ruhe.« Durch diesen kleinen, bewusst gesprochenen oder gedachten Satz machen wir uns die Geste des Ruhens innerlich real und fühlbar. Legen Sie das Buch für eine oder zwei Minuten beiseite, stellen Sie sich aufrecht und mit schulterbreit parallel gestellten Füßen hin, schließen Sie die Augen, atmen Sie dabei tief und ruhig aus und ein und denken Sie: »Ich ruhe.«
Wollen
Um aus der Ruheposition, aus dem Stand in die Bewegung zu kommen, bedarf es eines Willensimpulses. Dazu können wir uns selbst sagen: »Ich will.« In diesem Moment löst sich die Ferse von der Erde. Das Abheben ist Ausdruck eines umgesetzten Impulses der Seele und geschieht zeitgleich mit der »Ich will«-Geste als Lösung der Ferse von der Erde. Damit Sie das wirklich fühlen, bitte ich Sie erneut, das Buch wegzulegen und mehrere Schritte zu machen. Konzentrieren Sie sich dabei auf den Moment, in dem das Heben der Ferse gleichzeitig mit einem laut gesprochenen »Ich will!« wahrgenommen wird.
Der japanische Meister Ha ku yushi sagte: »Der Atem des rechten Menschen ist ein Atmen mit den Fersen.« Bei der GODO-Meditation, die ich auch gerne »dynamisches GODO-Yoga« nenne, entspricht das Lösen der Ferse dem Moment der beginnenden Einatmung. Probieren Sie es doch gleich einmal aus.
Denken
Der freie, gelöste Fuß, das sogenannte Spielbein, durchmisst den Raum, wobei die äußere Welt an uns vorübergleitet, wir uns durch sie hindurchschieben, etwa so, wie die Gedanken sich immer neu bildend und wieder verblassend unsere Köpfe durchziehen. Hier können wir uns bewusst werden, dass die Seele sagt: »Ich denke.« Dabei schwebt das Spielbein frei wie ein Gedanke über der Erde.
Bei diesem Bewegungsabschnitt scheiden sich die Geister. Der Hackengänger hebt nämlich seine Fußspitze hoch, bevor er die Erde mit der Ferse betritt, während der Ballengänger seinen Fuß locker hängen lässt und deshalb der Erde mit Ge(h)fühl begegnet.
Was hier geschieht, bedarf einer besonderen Betrachtung, denn es handelt sich um die Kernproblematik des Hackenganges.
Ganganalyse