Die tiefe ursprüngliche Natur des Geistes, heißt es deshalb im Vajrayāna, enthält als Potential alle positiven Energien und Qualitäten des Erwachens. Wenn die Aufmerksamkeit eines Menschen dauernd in Mustern selbstbezogenen Denkens und selbstbezogener Reaktionen befangen ist, werden diese angeborenen Energien zu Emotionen geformt, die auf Täuschung beruhen, wie Angst, Streben nach Besitz und Abneigung – zu inneren Ursachen von Leiden (Bokar Rinpoche, 1991). Bei der Praxis des Vajrayāna geht es darum, diese verwirrten Muster von Emotionen zu transformieren und zu befreien, indem sie die angeborene, primordiale Bewusstheit alle Erfahrungen als Ausdruck ihres eigenen leeren Wissens, jenseits von Verdinglichung oder Anhaften, erkennen lässt. Wenn angeborene Bewusstheit Gedanken und Emotionen als Muster der eigenen wissenden Leere erkennt, lösen sich Emotionen spontan von selbst in ihrer eigenen unkonditionierten Leere, wie das Schreiben auf Wasser wieder in seinem eigenen unveränderlichen Wesen des Wassers aufgeht. Dann werden die angeborenen Energien, die auf Täuschung beruhende Emotionen genährt hatten, von ihrer entstellten Prägung zu Mustern befreit, um sich als Energien allumfassenden Mitgefühls, allumfassender Weisheit und allumfassender Präsenz für andere zu manifestieren (Dilgo Khyentse Rinpoche, 1996; Makransky, 2010; Ray, 2001; Sogyal Rinpoche, 2012). Mitgefühl wird so als eine intrinsische Fähigkeit fundamentaler Bewusstheit verstanden – als eine angeborene Qualität primordialen Geistes, die automatisch entfesselt wird, wenn der Geist von seinen gewohnten Mustern selbstbezogener Konzeptualisierung und Reaktivität befreit ist.
Weil alle Menschen diese selbe angeborene Fähigkeit für spontanes Erwachen besitzen, kennt das Mitgefühl eines Schülers des Vajrayāna andere Wesen nicht nur in ihrem Leiden, sondern auch in ihrer unermesslichen Würde, in ihrer ursprünglichen Reinheit und in ihrem angeborenen Potential. Jemand, der seine Buddha-Natur verwirklicht hat, kommuniziert dann mit der Buddha-Natur in anderen Menschen, die noch nicht verwirklicht ist, spiegelt ihnen damit ihr tiefstes Potential und hilft damit, es in ihnen hervorzurufen (Makransky, 2010). Erwachen zum eigenen angeborenen Potential wird ansteckend.
Die Meditationspraxis des tibetischen Vajrayāna verkörpert diese Möglichkeit der „Ansteckung“. Man ruft sich eine Menge erwachter Wohltäter in menschlicher oder symbolischer Form ins Bewusstsein, die man als Verkörperungen tiefsten Mitgefühls und tiefster Weisheit, von verwirklichter Buddha-Natur betrachtet. Man kommuniziert intensiv mit diesen mitfühlenden Gestalten, indem man der Buddha-Natur, die sie repräsentieren, rituell alle seine äußeren und inneren Erfahrungen anbietet. Unsere Schichten von Leiden können jetzt, da sie mit dem durchdringenden Mitgefühl und der durchdringenden Weisheit dieser Wohltäter gehalten werden, in einem Bewusstsein tiefer Akzeptanz und Sicherheit wahrgenommen werden. Das hilft uns, den Zugriff und die Fixierung unserer emotionalen Prägung zu lösen und schließlich mit unseren Wohltätern im Grund ihres umfassenden Mitgefühls, der Buddha-Natur, der grenzenlosen Weite von Leere und Erkenntnis, zu verschmelzen (Thondrup, 1995). Von dieser Stelle aus kann jetzt unsere eigene angeborene Fähigkeit befreit werden – unser Mitgefühl für alle anderen in ihrem Leiden und dem darunter liegenden Potential kann sich spontan entfalten. Wenn wir auf diese sanfte Weise lernen, zur Anerkennung unserer Buddha-Natur zu gelangen und ihre mitfühlende Energie auf alle anderen auszudehnen, lernen wir, unseren eigenen Platz unter erwachten Wohltätern einzunehmen und zu einer Erweiterung oder Fortsetzung ihrer Aktivität für alle Wesen zu werden (Bokar Rinpoche, 1991; Dilgo Khyentse Rinpoche, 1996; Makransky, 2010).
Mitgefühl und Weisheit sind in den drei führenden buddhistischen Traditionen auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden. Im frühen Buddhismus und im Theravāda-Buddhismus wird Mitgefühl als eine Kraft für tiefe innere Reinigung und für Schutz und Heilung gesehen, die innere Freiheit unterstützen kann. Im Mahāyāna-Buddhismus wird Mitgefühl zu dem primären Mittel, eine nicht konzeptuelle Weisheit in Kraft zu setzen und zu vermitteln, in der man sich selbst und andere als ungetrennt erlebt. Im Vajrayāna-Buddhismus strahlt unbedingtes Mitgefühl allumfassend als ein spontaner Ausdruck der tiefsten unkonditionierten Natur des Geistes aus.
Systematische Formen, weises Mitgefühl zu kultivieren, wurden in jeder der drei Traditionen entwickelt. In unserer modernen globalen Kultur haben Therapeuten die Möglichkeit, zu untersuchen, welcher Ansatz sie selbst oder ihre Klienten am besten orientieren und nähren kann. In Zusammenarbeit mit erfahrenen Lehrern dieser Traditionen der Meditation können Therapeuten auch untersuchen, wie existierende Konzepte und Techniken vielleicht an ihre Settings angepasst werden können. Möge dieses Buch diese edlen Bemühungen fördern und unterstützen.
KAPITEL 5
Der mitfühlende Therapeut
ELISSA ELY
Menschen sind keine Probleme, die gelöst werden.
DIANA TRILLING (1982, S. 339)
Anmerkung der Herausgeber: Die meisten Therapeuten halten sich für mitfühlend, und sie sind es auch wirklich. Doch wir sind alle mit Grenzen dessen konfrontiert, was wir tun können. Die folgende Geschichte illustriert, wie schwer es ist, angesichts des namenlosen Leides in der Welt mitfühlend zu bleiben.
An zwei Abenden der Woche besuche ich ein Obdachlosenasyl. Viele der Patienten, die ich da habe, hören Stimmen, und manchmal glauben sie, dass sie für Verbrechen bestraft werden, die sie nie begangen haben. Sie leben in großer Angst vor schrecklichen Ereignissen, die nie eintreten werden, und manchmal können sie das Schreckliche nicht vergessen, was sie tatsächlich erlebt haben.
Ich verschreibe Meditationen, halte bildlich gesprochen ihre Hand, bewundere ihre Stärken und gebe ihnen zu verstehen, dass ihre Symptome abnehmen werden und sich ihr Leben verbessern wird, wenn sie einfach durchhalten – wenn sie ihre Medikamente nehmen, regelmäßig Terminvereinbarungen mit ihren Therapeuten einhalten und sich von Drogen fernhalten.
Aber ich weiß, dass dies nicht immer so ist.
Dies ist die Geschichte eines Patienten aus dem Asyl. Sie begann mit einem Zeitungsartikel, den ich über ihn schrieb. Sein Intelligenzquotient lag unter 70. Weder trank er noch nahm er Drogen, aber es fiel ihm schwer, seinen Drang nach Lotterielosen zu kontrollieren. Wenn seine Zahl gezogen wurde, lud er die vielen Freunde aus seinem Umkreis, die er plötzlich hatte, zu chinesischem Essen und manchmal ins Kino ein.
Er wartete auf Hilfen vom Staat. Jeden Morgen ging er über die Brücke in einen Park in der Nähe. Er wanderte den ganzen Tag umher, machte isometrische Übungen, beobachtete Vögel und ging dann zum Obdachlosenasyl zurück. Er genoss die Natur, aber das Asyl regte ihn auf und schüchterte ihn ein. Seine Hände waren riesig und seine Arme wie Rohre von den vielen Liegestützen, die er machte. Wände und Mülltonnen hatten darunter zu leiden.
Nachher war er voller Reue. „Ich möchte diese Hände nie wieder aus meinen Hosentaschen nehmen und nie wieder jemanden schlagen, Frau Ely“, sagte er nach jeder Entgleisung. Bereitwillig nahm er die Medikamente gegen seine Wut.
Die sozialen Einrichtungen kümmerten sich nur zögernd um ihn. Das Department of Mental Health war an jemandem ohne eine Geschichte mit Klinikaufenthalten, Suizidversuchen oder einer Psychose nicht interessiert. Wir waren der Meinung, vor dem Hintergrund seines relativ niedrigen IQ wäre ihm besser mit einer Institution für Menschen mit einer geistigen Behinderung gedient.
Wochen vergingen, nachdem der Antrag eingereicht war – und dann wurde er ohne Begründung abgelehnt. Irgendwo erzählte uns ein Angestellter, dass der Patient berechtigt wäre, in seiner Angelegenheit einen ausführlichen Brief zu schreiben, der als ein Einspruch dienen würde. Es kam uns wie ein Widerspruch vor, dass er einen sehr durchdachten Schriftsatz verfassen sollte, um die eigene Unfähigkeit zu begründen, aber man kann mit den Irrationalitäten einer staatlichen Behörde nicht argumentieren.
Er machte weiter seine Liegestütze, nahm seine Pillen gegen die Wut und war außer an kalten Wintertagen immer draußen unterwegs. Er versuchte, sich selbst zu behandeln. Aber er begann Rückschritte zu machen, wieder Mülltonnen zu traktieren und Mitbewohner im Asyl zu bedrohen. Er nahm seine großen Hände oft aus den Hosentaschen.
Eines